„Overspray“ ist kein neues Deodorant und trotzdem kennt es wohl jeder: Sprühnebel, der beim Lackieren deutliche Verschmutzungen und damit erhebliche Lackverluste verursacht sowie eine komplexe Reinigung und Entsorgung nötig macht. Eine Lösung im mehrfachen Sinne hat das Forscherteam Franz Balluff und Thomas Hess vom Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA entwickelt und wurde am 15. November 2023 mit dem Otto von Guericke-Preis in Berlin ausgezeichnet. Die Ergebnisse ihres Forschungsprojektes mit dem Titel „Ermittlung der Struktur-Eigenschaftsbeziehungen von Lacken für die Applikation mit oversprayfreier und selektiver Lackiertechnik (Digital Painting)“ ermöglichen eine Materialeinsparung von bis zu 50 Prozent und damit eine herausragende Ressourcenschonung.
Das Forschungs- und Transfernetzwerk AiF Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigungen „Otto von Guericke“ e.V. vergibt den mit 10.000 Euro dotierten Preis seit 1997 an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für besondere Innovationsleistungen auf dem Gebiet der vorwettbewerblichen Industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF), die vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz mit öffentlichen Mitteln gefördert wird.
Vollständige Overspray-Vermeidung
Spritzlackierung ist bei nahezu allen produzierten Gütern ein zentraler Veredelungsschritt. Dabei fällt allerdings sogenannter Lacknebel an, der zu erheblichen Materialverlusten führt sowie großflächiges Entfernen von überschüssigem Lack und energieintensive Nach- und Reinigungsarbeiten verbunden mit dem Einsatz von umweltschädigenden Lösungsmitteln verursacht. Selektive Beschichtungen erfordern darüber hinaus zeit- und personalintensives Flächenabdecken, sogenannte manuelle Maskierungen. Seit geraumer Zeit wird daher an hochpräzisen und selektiven Lackierprozessen geforscht: Digital Painting ist ein neuartiges Verfahren, bei dem Einzeltropfen genutzt werden, um Komplettbeschichtungen zu realisieren. Damit können aber auch Linien, Flächen oder Logos randscharf und nahezu oversprayfrei erzeugt werden.
Der große Durchbruch dieser neuen Technologie ist aber bisher nicht erfolgt. „Es gibt vielfache Bestrebungen in der Industrie, hier voranzukommen, jedoch ist das komplexe Zusammenspiel zwischen Lackmaterial und Applikationstechnik noch nicht voll verstanden“, erklärt Hess. Für die Erzeugung von Einzeltropfen in Applikationsdüsen muss der Lack besondere Voraussetzungen mitbringen. Das Team untersuchte Lackeigenschaften zur Tropfenerzeugung und erarbeitete Vorgaben für Lacke und Düsen bei Mehrfarbenlackierungen verbunden mit selektivem Korrosionsschutz und vollständiger Overspray-Vermeidung.
Innovation bedient branchenübergreifendes Interesse
„Unser Ziel war es, die Physik – von der Tropfenbildung und Applikation bis hin zur Schichtbildung – mit der Chemie, also der Zusammensetzung der Beschichtungsstoffe, zu verbinden und ein wissenschaftliches Fundament in Form von Kennlinien, Lackeigenschaftsprofilen, Düsengeometrien und Prozessparametern zu erarbeiten“, konkretisiert Balluff die Herausforderung. In zahlreichen experimentellen sowie simulationstechnischen Versuchen testeten die Forscher unterschiedliche Tropfenapplikationsparameter und entwickelten Modelllacke, bei denen die verschiedenen Komponenten variierten, um deren Einflüsse auf die Tropfenbildung zu untersuchen. „All das zusammen konnten wir in ein Simulationsmodell überführen, das uns ermöglichte, die Einzeleinflüsse von Lack, Lösemittel, Pigment und Additiv herauszuarbeiten“, beschreibt Hess die Vorgehensweise.
Das Ergebnis ist eine umfassende „Toolbox“ für Hersteller von Lacken und Applikationstechnik sowie für Anwender in Lackierbetrieben. Die Innovation der Stuttgarter Wissenschaftler bedient ein breites und branchenübergreifendes Interesse, denn Lacke schützen und gestalten Fahrzeuge aller Art, Gebäude, Möbel, Werkzeuge, Computer, Spielzeuge – gefühlt jeden Gegenstand unseres Alltags.
Erhebliche Energieeinsparungen
Innerhalb von IGF-Projekten forschen Wissenschaft und Wirtschaft immer gemeinsam. Mittelständische Unternehmerinnen und Unternehmer bringen ihre langjährige Expertise aus der Praxis ein und sind ein Garant für anwendungsnahe und vor allem bedarfsgerechte Forschung. Max Hertfelder von der Hertfelder GmbH Lackiertechnik aus Marbach am Neckar beschreibt die Wirkung der Forschungsergebnisse der Preisträger so:
„Mit diesem Lackierverfahren können wir unseren Kunden neue Lösungen sowie ein hohes Maß an Individualisierung anbieten –- und das Ganze natürlich oversprayfrei.“ Die Vorteile lägen klar auf der Hand: darunter die Vermeidung von Mehrfachlackierungen und aufwendigen Abklebearbeiten. Hertfelder hebt den energetischen Aspekt hervor: „Wir brauchen viel weniger Umluft und Absaugung. Lackierkabinen können wegen reduzierter Zuluftanforderungen kompakter und flexibler gestaltet werden. Auch das spiegelt sich auf der Kostenseite sehr positiv wider.“
Das Projekt wurde vom AiF-Mitglied Forschungsgesellschaft für Pigmente und Lacke e.V. – FPL koordiniert. Der FPL-Geschäftsführer Dr. Michael Hilt bezeichnet das Forschungsvorhaben als prototypisch für die Industrielle Gemeinschaftsforschung:
„Wir sind in der Lage, hier gleich zwei Technologiefelder zu bedienen: die Lackiertechnik auf der einen und die Lackherstellung auf der anderen Seite.“ Das zu kombinieren sei nicht selbstverständlich. „Dadurch schaffen wir für die kleinen und mittleren Unternehmen in den Branchen die Möglichkeit, auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu sein und nachhaltig eine bunte Welt aufrecht zu erhalten“, betont Hilt.