Was passiert, wenn Städte ihren Straßenraum in erster Linie auf den Bedarf beim Radfahren und E-Biken ausrichten? Auf einer neuen, populärwissenschaftlichen Website zeigen ETH-Forschende an Beispielen aus der Stadt Zürich, wie eine solche E-Bike-City dereinst aussehen könnte: Wie sähe der Straßenraum aus, wenn eine Stadt die Hälfte ihrer Verkehrsflächen fürs Radfahren und E-Biken zur Verfügung stellte? Benutzten Städter dann häufiger ihr Rad? Wäre die E-Bike-City gar ein Ansatz, um die verkehrsbedingten CO2-Emissionen zu senken?
Diese Fragen untersuchen neun Professuren der ETH Zürich und der EPF Lausanne seit gut anderthalb Jahren. Den Lead dieser Forschungsinitiative hat der Verkehrsforscher Kay Axhausen, der im Januar 2024 emeritiert wird (vgl. Box). Jetzt liegen die ersten Erkenntnisse vor, und die Forschenden haben ihre Lösungsansätze anschaulich mit Visualisierungen aufbereitet und diese Woche auf einer Storymap-Website veröffentlicht. Mittels Storymapping lässt sich die Vision der E-Bike-City leicht verständlich als Geschichte in Text und Bild nachvollziehen.
Die E-Bike-City-Vision sieht vor, dass die Menschen künftig die Hälfte des städtischen Straßenraums nutzen können, wenn sie zu Fuss unterwegs sind oder per Fahrrad, E-Bike, Lastenrad, E-Scooter oder mit anderen Kleinverkehrsmitteln (sog. Mikromobilität). Heute sind über 80 Prozent des städtischen Straßenraums für Autos und Parkplätze reserviert. Nur rund 11,7 Prozent sind für E-Bikes und Fahrräder vorgesehen. Zumeist teilen sich Radfahrende und E-Biker:innen die Strassen mit den Autos.
Mehr Raum für die Menschen statt für die Autos
Im Unterschied dazu wären die Fahrspuren für Autos, öffentlichen Verkehr (Trams, Busse), Zweiräder (Velos, E-Bikes) sowie die Gehwege für Fußgänger in der E-Bike-City grundsätzlich voneinander getrennt. Dafür müsste kein zusätzlicher Straßenraum neu gebaut werden, sondern der bestehende würde umgebaut. Das innerstädtische Autostraßennetz bestünde in der E-Bike-City weitestgehend aus einspurigen Einbahnstraßen. Die Fahrspuren für die Räder und E-Bikes befänden sich in der Regel links und rechts der Einbahnstraße. Der öffentliche Verkehr wiederum führe weiter auf den bestehenden, separaten Fahrspuren. «Eine derartige Neugestaltung gäbe den Menschen mehr Raum zurück», sagt Kay Axhausen.
Um die Neuerungen der E-Bike-City so realistisch wie möglich darzustellen, haben die Forschenden drei typische Beispiele aus der Stadt Zürich ausgewählt: Das Bellevue und die Quaibrücke beim Zürichsee, die Birchstrasse in Zürich-Nord und die Winterthurer-/Letzistrasse in Zürich-Oberstrass. An diesen Beispielen zeigen sie, wie ein Straßenraum aussähe, wenn er rad- statt autofreundlich gestaltet wäre. Mit einem Bildschieberegler lassen sich der heutige Strassenraum und der mögliche zukünftige Zustand direkt miteinander vergleichen.
Der Entwurf der E-Bike-City folgt bestimmten Gestaltungsprinzipien: Ausgehend vom bestehenden Straßennetz wird jeweils die eine Hälfte jeder Straße zu einer sicheren und komfortablen Fahrradstraße umgebaut, die mit dem Rad, Elektrorad, Lastenrad, Elektrotretroller etc. befahren wird. Die andere Hälfte der Straße dient nach wie vor den Autos (Benzin oder Batterie), sodass die Zufahrt zu Wohn- und Bürogebäuden gewährleistet ist.
In vier Schritten zum E-Bike-freundlichen Bellevue
Auf ihrer Storymap-Website zeigen die ETH-Forschenden am Beispiel des Zürcher Bellevues und der Quaibrücke, wie sich die E-Bike-City-Prinzipien in vier Schritten realisieren ließen:
Schritt 1: Der öffentliche Verkehr, der die Quaibrücke heute auf einer Fahrspur in der Mitte überquert, behält seinen Vorrang. Die meisten Tramgleise und Busspuren bleiben unverändert. Dort, wo keine separaten Tram- und Busspuren möglich sind, sorgen gemeinsame Fahrspuren mit den Autos für ein durchgängiges ÖV-Stadtnetz.
Schritt 2: Das Straßennetz der Autos erschließt jedes Gebäude, sodass alle wichtigen Zufahrten (z.B. Handwerker, Menschen mit Mobilitäts- oder Körperbehinderungen), Notdienste (Krankenwagen, Feuerwehr, Polizei) und Lieferungen möglich sind.
Schritt 3: Der verbleibende Straßenraum wird für die Mikromobilität genutzt sowie für breitere Fußwege und neue Grünflächen. 37 Prozent der heutigen Straßen in Zürich ließen sich laut den ETH-Forschenden für die Mikromobilität, Gehwege und Grünflächen umnutzen.
Schritt 4: Je mehr Städter sich in der Folge für ein autofreies Leben entschieden, umso mehr Parkplätze ließen sich nach und nach zu Fahrradabstellplätzen, Grünanlagen, Spielplätzen umbauen. Ein ausreichendes Angebot an Ladezonen und Kurzzeitparkplätzen sicherte die Zufahrten für Notfall-, Liefer- und Transportfahrzeuge.
Dynamische Straßen-Nutzung gegen Staus
Neben diesen Schlüsselmaßnahmen untersuchen die ETH- und EPFL-Forschenden weitere Begleitmaßnahmen. Zum Beispiel könnte die Umstellung auf ein städtisches Einbahnstraßen-Netz die Autos stauen. Diese Stau-Wahrscheinlichkeit ließe sich mit einer dynamischen Straßennutzung senken. Dabei würde je nach Tageszeit mittels Lichtsignalen gesteuert, in welcher Richtung die Autos und Fahrräder jeweils die Straße benutzten und wie viele Fahrspuren sie nutzen könnten. Auch die Akzeptanz der E-Bike-City wird untersucht. Zum Beispiel könnten sich Autofahrende benachteiligt sehen, wenn der Radverkehr bevorzugt gefördert wird. «Im Forschungsprojekt überprüfen wir, wie tragfähig und kostendeckend die Grundannahme und die Prinzipien der E-Bike-City sind, und welche Voraussetzungen für einen möglichen Umbau nötig sind», sagt Kay Axhausen.
«Mit Blick auf die Erderwärmung können wir in der Verkehrsplanung nicht wie bisher weitermachen. Wir brauchen neue verkehrspolitische Ideen für die Städte. Die E-Bike-City ist auch ein Modell, wie der Verkehr seine Treibhausgasemissionen reduzieren kann», sagt Axhausen, «die E-Bike-City soll zeigen, dass Fahrrad und E-Bike als Standardverkehrsmittel in der Stadt dienen können. Unsere Vision ist es, dass die Stadt bequemer, leiser, grüner und gesünder wird als heute.»