Naturbasierte Lösung als Schutz vor Hochwasser

Forschende des IGB empfehlen, vorrangig einen kosteneffizienten und multifunktionalen naturnahen Hochwasserschutz umzusetzen. | Foto: © shutterstock_2319474775

Die Hochwassersituation in Teilen Deutschlands entspannt sich langsam. Dennoch wird es noch einige Tage dauern, bis die Flüsse wieder in ihr Bett zurückkehren. Doch wie breit ist ein natürliches Flussbett eigentlich? Unter welchen Bedingungen wird Hochwasser für uns gefährlich – und ist es das auch für die Natur? Wie können wir uns besser auf solche Extremereignisse vorbereiten und welche Maßnahmen nutzen Mensch und Natur gleichermaßen? Die aktuellen Hochwasserereignisse machen deutlich, dass wir beim Hochwasserschutz umdenken müssen, erklären Forschende des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB).

Für die meisten Menschen endet ein Fluss dort, wo Wasser auf Land trifft – an der Uferkante. Tatsächlich sind Flüsse aber viel ausgedehnter: Ihre natürlichen Überschwemmungsgebiete – die Auen – gehören bei Hochwasser dazu. Und auch die Flussbetten selbst waren ursprünglich breiter; das Wasser floss in mehreren Flussarmen und um viele Inseln, wie es sie heute z.B. noch in der Loire und in der Weichsel gibt. Mittlerweile sind in Deutschland nur noch 32 Prozent dieser Auen vorhanden (BfN 2021). Die restlichen 68 Prozent wurden durch Deichbau von den Flüssen abgetrennt, entwässert und zur Landwirtschaft oder für Siedlungen genutzt.

„Deichbau und Entwässerung, die lokal sinnvoll waren, haben durch ihre flächenhafte Umsetzung dazu geführt, dass heute ganze Landstriche anfälliger für Hochwasserereignisse sind. Die Moorgebiete Niedersachsens zum Beispiel verzeichnen durch die Entwässerung großflächige Absenkungen der Geländeoberfläche um ein bis zwei Meter“, erklärt IGB-Forscher Dr. Martin Pusch.

Dadurch erhöhen sich dort die möglichen Überflutungshöhen.

Hochwasser als Naturereignis:

„Hochwasser sind ganz natürliche Ereignisse in intakten Flusslandschaften, die über Jahrtausende eine einzigartige Artenvielfalt und widerstandsfähige Ökosysteme geschaffen haben. Sie sind sogar Voraussetzung für lebenswichtige Funktionen – zum Beispiel für die Grundwasserneubildung. Für einen nachhaltigeren Schutz vor Hochwasser sollten daher nicht nur technische Maßnahmen, sondern zunehmend naturbasierte Lösungen im Fokus stehen“, berichtet Prof. Dr. Sonja Jähnig, Abteilungsleiterin am IGB und Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Erst der Bau von Siedlungen und Infrastrukturen in den Auen hat dazu geführt, dass aus einem eigentlich natürlichen Phänomen große materielle Risiken entstanden sind. Flussbegradigungen und zu dicht an Flüssen geführte Hochwasserdeiche ebenso wie großflächige Entwässerungen und Drainagen lassen Hochwasserwellen höher und schneller anschwellen. Zugleich tragen anthropogene Veränderungen wie die Folgen des Klimawandels, die zunehmende Bodenversiegelung und -verdichtung sowie der Gewässerausbau grundsätzlich zu einer Zunahme der Hochwasserhäufigkeit, -höhe und -fließgeschwindigkeit bei.

Begrenzte Schutzwirkung von Deichen und Rückhaltebecken:

Technische Hochwasserschutzanlagen bieten keinen absoluten Schutz. Treten stärkere Regen- und Hochwasserereignisse auf als bei der Bemessung angenommen, werden sie schnell zum Problem. „Ein vorwiegend technisch orientierter und oft nicht nachhaltiger Hochwasserschutz stößt zunehmend an seine Grenzen, weil er erhebliche Restrisiken birgt, flussabwärts neue Risiken erzeugt und zudem die Umwelt schädigt“, erläutert die IGB-Forscherin.

Herkömmlicher Hochwasserschutz greift nicht nur stark in die Gewässerstruktur ein, er ist auch teuer, meist unflexibel und lässt sich nur schwer an die im Klimawandel zunehmenden Hochwasserereignisse anpassen. Zudem gehen wertvolle Lebensräume für viele Tier- und Pflanzenarten im und am Wasser verloren – und damit auch viele Vorteile für uns Menschen. „Wir brauchen deshalb deutlich mehr Hochwasserschutzkonzepte mit Mehrfachnutzen für Mensch und Umwelt“, rät Jähnig. „Wir müssen von der Idee wegkommen, dass ein Fluss nur Wasser irgendwohin ableitet und stattdessen anstreben, dass diese Ökosysteme viele verschiedene Leistungen erbringen.“

Naturnaher Hochwasserschutz ist wichtiger Teil der Lösung:

Statt allein auf bauliche Maßnahmen wie Deiche oder künstliche Rückhaltebecken zu setzen, sollten also verstärkt sogenannte naturbasierte Lösungen (NbS, nature based solutions) zum Einsatz kommen. Sie sind meist multifunktional, d.h. sie dienen verschiedenen gesetzlichen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Zielen gleichzeitig – im Falle der Flussauen etwa der Klimaanpassung, der Erholung, dem Naturschutz oder der Biomasse-Erzeugung. Maßnahmen wie die Revitalisierung von Flüssen, Auen, Feuchtgebieten, Mooren und Wäldern oder die Entsiegelung von Flächen verbessern den Wasserrückhalt in der Landschaft und damit die Widerstandsfähigkeit gegenüber Hochwasserereignissen – aber auch gegenüber Dürren und Trockenperioden.

Technische Hochwasserschutzmaßnahmen wie Deiche sollten hingegen vor allem auf Siedlungsgebiete beschränkt werden, aber nicht zum Schutz landwirtschaftlicher Flächen dienen. „Der Schutz von Feldern und Äckern vor Hochwasser erhöht die Hochwassergefahr für Städte, Siedlungen und wichtige Infrastruktur“, erklärt Martin Pusch. „Deshalb sollten Deiche zurückverlegt und zusätzliche Überflutungsflächen geschaffen werden. Landwirtschaftliche Flächen, die in den Auen liegen, wären dann zwar nicht mehr geschützt, könnten aber immer noch als Weideland oder zur Erzeugung von Biomasse genutzt werden – beispielsweise durch den Anbau von Kulturpflanzen, die kaum Dünger benötigen.“

In den Niederlanden, die seit Langem führend im Wasserbau sind, wird dieses Prinzip im Rahmen des Programms „Raum für den Fluss“ großflächig umgesetzt. In Deutschland werden dagegen nur relativ wenige Deichrückverlegungen durchgeführt, sodass die aktive Auenfläche im Zeitraum 2009 bis 2020 nur um 0,1 Prozent pro Jahr vergrößert werden konnte. „Die meisten Gelder werden hierzulande immer noch in Deicherhöhungen und Deichverstärkungen investiert“, kritisiert Pusch.

Nationales Hochwasserschutzprogramm bleibt hinter den Erwartungen zurück:

Nach den großen Hochwasserschäden des Jahres 2013 hatten Bund und Länder ein Nationales Hochwasserschutzprogramm (NHWSP) beschlossen, um den natürlichen Hochwasserrückhalt zu koordinieren und zu beschleunigen. Damit könnten die Hochwasserstände auf weiten Strecken um 10 bis 50 cm gesenkt werden.

„Leider soll der Hochwasserrückhalt jedoch zu zwei Dritteln durch neue Polder und nur zu einem Drittel durch naturnahen Hochwasserrückhalt wie Deichrückverlegungen erreicht werden“, so Pusch.

Von den 168 raumbedeutsamen Teil- und Einzelmaßnahmen des NHWSP befinden sich 66 in der Konzeptionsphase (39 Prozent), 46 (27 Prozent) in der Vorplanung, 18 (11 Prozent) in der Genehmigungs- bzw. Vergabephase und 26 (15 Prozent) in der Bauphase (LAWA 2023).

Die Forscherinnen und Forscher des IGB empfehlen daher, vorrangig einen kosteneffizienten und multifunktionalen naturnahen Hochwasserschutz umzusetzen. Deichrückverlegungen bieten ein breiteres Spektrum an Ökosystemleistungen als die Einrichtung technisch gesteuerter Polder, die nur selten geflutet werden und der naturnahe Hochwasserschutz funktioniert unabhängig von der behördlichen Entscheidungskette. Die für diese Deichrückverlegungen benötigten Flächen sollten in der Regional- und Flächennutzungsplanung reserviert werden. Betroffene Landwirt*innen könnten über Flächenpools und Flurbereinigungen entschädigt werden.

„Nur mit einem solchen ganzheitlichen Ansatz können wir den Herausforderungen des Hochwasserschutzes langfristig begegnen und gleichzeitig die natürlichen Lebensräume an unseren Fließgewässern erhalten“, fasst Auen-Forscher Martin Pusch zusammen und ergänzt: „Zahlreiche wissenschaftliche Studien belegen, dass es sinnvoll ist, Auen zu erhalten und ihre Funktionen wiederherzustellen – nicht nur wegen des Hochwasserschutzes, sondern auch wegen ihrer Fähigkeit zum Nährstoffabbau, ihrer Bedeutung im Kohlenstoffkreislauf und für den Erhalt der Artenvielfalt.“