Küstengebiete und -Gesellschaften sind zunehmend marinen Naturgefahren und Extremereignissen ausgesetzt – mit meist regionalen, aber auch weitreichenden globalen Folgen. Dazu zählen Hochwasser und Sturmfluten mit oft enormen Schäden an küstennahen Gebäuden und Infrastrukturen wie im Jahr 2023 in Deutschland. Gerade Küstenregionen sind von steigenden Temperaturen und daraus resultierenden Rückkopplungseffekten massiv betroffen. Diese sind beispielsweise Auslöser für das vermehrte Auftreten von Mikroorganismen, die Mensch und Tier schaden können, und für Sauerstoffmangel, der zu einem massenhaften Fischsterben führen kann. In anderen Regionen weltweit verursachen durch Erdbeben oder Vulkanausbrüche ausgelöste Tsunamis massive Überschwemmungen und Katastrophenlagen an den Küsten.
Einzelne Extremereignisse und Naturgefahren können noch verstärkt werden, wenn sie gleichzeitig oder in kurzer Folge auftreten und miteinander interagieren und zu kaskadierenden weitreichenden sozioökonomischen Auswirkungen führen. Die Wechselwirkungen dieser oft multiplen Extremereignisse und Naturgefahren sowie ihre langfristigen Auswirkungen auf marine Ökosysteme und die Küstenbewohnern stehen im Fokus der dritten inter- und transdisziplinären Forschungsmission der Deutschen Allianz Meeresforschung (DAM) „Wege zu einem verbesserten Risikomanagement im Bereich mariner Extremereignisse und Naturgefahren“ (mareXtreme).
Ziel von mareXtreme ist, die Vorhersagefähigkeit mariner Extremereignisse und Naturgefahren wesentlich zu verbessern, die nachhaltige Entwicklung von Küstengemeinden zu unterstützen und die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft an den Küsten zu stärken. Wie in den ersten beiden DAM-Forschungsmissionen „Marine Kohlenstoffspeicher als Weg zur Dekarbonisierung“ (CDRmare) und „Schutz und nachhaltige Nutzung mariner Räume“ (sustainMare) arbeiten auch in mareXtreme Forschende aus verschiedenen Disziplinen in enger Abstimmung mit Akteuren aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zusammen. So sollen gesellschaftlich reflektiertes, lösungsorientiertes Handlungswissen ausgebaut und wissenschaftsbasierte Entscheidungen im Umgang mit marinen Extremereignissen und Naturgefahren ermöglicht werden.
Am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel werden zwei der vier Verbundprojekte aus mareXtreme koordiniert. Außerdem beteiligen sich GEOMAR-Forschende an den beiden weiteren Verbünden. Auch an den bereits seit 2021 laufenden Missionen CDRmare und sustainMare ist das GEOMAR stark beteiligt.
„Die maßgebliche Beteiligung des GEOMAR auch an der dritten Forschungsmission der Deutschen Allianz Meeresforschung baut auf unserer Expertise in der Abschätzung von Risiken für die wachsende Gesellschaft Europas auf, die sowohl durch den Klimawandel als auch durch geologische Prozesse entstehen“, sagt Professorin Dr. Katja Matthes, GEOMAR-Direktorin und Mitglied des DAM-Vorstands. „Dem GEOMAR eröffnet die Zusammenarbeit in den DAM-Missionen neue Kooperationen zwischen wissenschaftlichen Disziplinen und darüber hinaus mit Politik, Praxis und Gesellschaft. Wir bringen uns sehr gerne auch in mareXtreme ein, um gemeinsam Lösungsansätze für zukünftige Herausforderungen zu entwickeln.“
MULTI-MAREX – Geo-Risiken im Mittelmeer adressieren
Unter der Leitung von Professorin Dr. Heidrun Kopp, Geophysikerin am GEOMAR, engagieren sich im Verbundprojekt MULTI-MAREX 50 Forschende von acht Universitäten und zwei Helmholtz-Zentren im engen Austausch mit der Gesellschaft für eine Verbesserung von Vorhersagemöglichkeiten und Handlungsansätzen rund ums Mittelmeer. So helfen sie, Gefahren durch geomarine Extremereignisse zu reduzieren. Ein Schwerpunkt der Arbeiten liegt auf der Ägäis.
Die Region zählt zu den tektonisch aktivsten Gebieten in Europa. Sie wurde stellvertretend für viele Küsten gewählt, an denen eine Zunahme der Bevölkerungsdichte und des Tourismus Risiken durch geologische Prozesse wie Erdbeben, Vulkaneruptionen und Tsunamis verschärfen. MULTI-MAREX bringt dort Zivilgesellschaft und Wissenschaft unter realen Bedingungen zusammen, um die Bevölkerung vor Ort sowie Tourist:innen auf entsprechende Ereignisse vorbereiten zu können.
„Wir möchten geologische Prozesse wie Seebeben, Vulkanismus, aber auch Flankenstabilität und Tsunamis nicht nur klarer charakterisieren, sondern auch eine effektivere Frühwarnung gewährleisten“, sagt Professorin Heidrun Kopp vom GEOMAR. „Dazu haben wir Forschende aus unterschiedlichen Disziplinen zusammengebracht, die eng mit Behörden und der Bevölkerung vor Ort im Sinne eines Co-Design zusammenarbeiten werden.“
Die Arbeiten umfassen sowohl Experimente an Land als auch mehrere Schiffs-Expeditionen, unter anderem zum untermeerischen Vulkan Kolumbo. Dieser liegt etwa sieben Kilometer nord-östlich von Santorini und damit in direkter Nachbarschaft zu einem der wichtigsten Touristenziele der Region. Wiederholte Erdbeben unter dem Vulkan legen einen Aufstieg von Magmen nahe, was diesen Vulkan zu einem der potentiell gefährlichsten in Europa macht.
„Wir werden am Kolumbo ein innovatives Monitoringsystem installieren, das auf künstlicher Intelligenz und Unterwasserkommunikation basiert. Daraus können wir Rückschlüsse über die Wechselwirkungen zwischen multiplen Extremereignissen ableiten, zum Beispiel wie ein Vulkanausbruch oder ein Flankenabbruch in einem Tsunami resultieren“, so die Projekt-Koordinatorin. „Aus unseren Forschungsergebnissen und Beobachtungen generieren wir dann wertvolles Handlungswissen, um die Zivilgesellschaft bei der nachhaltigen Entwicklung von Schutzmaßnahmen zu unterstützen und so nicht nur die Küstengemeinden, sondern auch die touristischen Zentren effektiv vor Extremereignissen zu schützen.“
ElbeXtreme – Auswirkungen von Extremereignissen auf Ökosystemleistungen verstehen
Der GEOMAR-Meereschemiker Professor Dr. Eric Achterberg koordiniert das Projekt ElbeXtreme, welches Auswirkungen physikalisch-ozeanographischer Extremereignisse auf Ökosystem-leistungen im Mündungsgebiet der Elbe untersucht. Zusätzlich zu steigenden Bevölkerungszahlen verzeichnet diese Region bereits deutliche Veränderungen im Ökosystem. Fluten, die teils durch Stürme und teils durch starke Niederschläge verursacht werden, Dürreperioden und Hitzewellen sowie Kombinationen verschiedener Extreme treiben diese Veränderungen im Zuge des Klimawandels weiter an. Wissenschaft, Politik und Gesellschaft sind daher gefordert, das Gefahrenpotential für die Küstengesellschaft zu bewerten und Anpassungsstrategien zu entwickeln. An ElbeXtreme sind 40 Forschende aus 14 Einrichtungen beteiligt.
ElbeXtreme wird die Folgen von Extremereignissen auf Ökosysteme und Ökosystemleistungen im Elbe-Ästuar und der Deutschen Bucht sowie die damit verbundenen Risiken umfassend untersuchen. „Wir werden Daten der im Gebiet vorhandenen relevanten Messinfrastruktur mit neuen Beobachtungsstrategien kombinieren, um den physikalischen, chemischen und biologischen Zustand der Elbe, ihres Ästuars und ihres Abflusses in die Nordsee neu zu charakterisieren“, erklärt Professor Dr. Eric Achterberg.
Die Analyse vorhandener und neuer Daten mittels maschinellen Lernens und deren Integration in gekoppelte Modelle und einen digitalen Zwilling der Elbe werden das Verständnis von Veränderungen der Ökosystemleistungen während und nach Extremereignissen deutlich verbessern. Dieses Wissen ist eine zentrale Voraussetzung für verbesserte Vorhersagen über mögliche, durch Extremereignisse bedingte mittel- und langfristige Änderungen von Küstenökosystemen und bildet die Grundlage zur Entscheidung erforderlicher ökologischer, sozialer und wirtschaftlicher Folgen, Warndienste und Anpassungen der Gesellschaft.
Einen ersten Einsatz haben beteiligte Forschende kurzfristig über den Jahreswechsel organisiert, berichtet Professor Dr. Eric Achterberg: „Das ElbeXtreme-Team arbeitet seit Weihnachten 2023 daran, die Auswirkungen der Elbehochwasserereignisse auf den Nähr- und Schadstofftransport in der Elbe und die Folgen für die Ökosysteme zu untersuchen. In den kommenden Wochen sind wir mit dem Forschungskutter LITTORINA in der Deutschen Bucht zwischen Cuxhaven und Helgoland für weitere Probennahmen unterwegs. Der Spontan-Einsatz war ein hervorragender Start für unsere praktischen Arbeiten und versorgt uns gleich zu Beginn mit wertvollen Daten.“
PrimePrevention – biologische Gefahren aus dem Meer besser abschätzen
Das am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung koordinierte Verbundprojekt PrimePrevention zielt darauf ab, biologische Gefahren aus dem Meer, etwa durch Blüten von Cyanobakterien, vermehrtes Auftreten von Vibrio-Bakterien und Sauerstoffmangel zu überwachen und vorherzusagen. Mit steigenden Wassertemperaturen erhöhen sich verbundene Risiken für die Gesundheit von Menschen und Ökosystemen sowie deren mögliche negative wirtschaftliche Folgen für Europa. Das Projekt wird Politik und Gesellschaft mit wichtigen Informationen für angepasste marine Überwachungs- und Bewertungsstrategien versorgen. Beteiligt sind mehr als 30 Fachleute für Mess-Sensorik, Sozialforschung, Geochemie und Mikrobiologie.
Forschende des GEOMAR steuern hierzu Erkenntnisse zur zeitlichen und räumlichen Ausdehnung von sauerstoffarmen und schwefelwasserstoffhaltigen Wassermassen in der Kieler Bucht bei. Diese können vom Meeresboden in höher liegende Schichten aufgetrieben werden und dort unter anderem für ein Massensterben von Fischen sorgen. „Für das Auftreten solcher Auftriebsereignisse muss zunächst eine detaillierte räumliche Wahrscheinlichkeitskarte erstellt werden, um die betroffenen Regionen zu identifizieren und eine Risikoabschätzung für Stakeholder abzugeben. Dies ist für Akteur:innen aus dem Tourismus, Fischerei und Aquakultur genauso relevant wie für die Bevölkerung in der Region“, erklärt Professorin Dr. Mirjam Perner, Geomikrobiologin am GEOMAR. Um Daten für die Wahrscheinlichkeitskarte zu erheben, werden auf verschiedenen Expeditionen geochemische und mikrobiologische Daten aus der Wassersäule und dem Sediment gesammelt.
METAscales – mehrskalige Modellierung für ein verbessertes Risikomanagement
Im Projekt METAscales, das von der Technischen Universität Braunschweig koordiniert wird, wollen Wissenschaftlern sowohl mögliche Schäden und Verluste mariner Extremszenarien beziffern als auch Strategien verbessern Dies soll helfen, Katastrophen-Risiken zu vermindern und Küstengemeinschaften anpassungsfähiger und resilienter zu machen. Für die Umsetzung sind unter anderem Reallabore mit Akteuren aus Küstengemeinden und Behörden geplant.
Das GEOMAR unterstützt dies mit Quantifizierungen mariner Hitzewellen und Meeresspiegelextremereignissen sowie mit Untersuchungen zu atmosphärischen und ozeanischen Antriebsfaktoren dieser Extreme. „Wir schauen anhand unserer Modelle sowohl zurück in die Vergangenheit als auch in die Zukunft“, erklärt Professor Dr. Arne Biastoch, Ozeanmodellierer am GEOMAR. „Unsere Ergebnisse fließen dann in andere Arbeitspakete von METAscales ein, die diese Ereignisse und deren Auswirkungen regional hoch aufgelöst betrachten oder Szenarien für die Beschreibung möglicher Zukünfte entwickeln.“