Überschwemmungen wie im Ahrtal und Sturmfluten bei extremen Wetterlagen nehmen durch den Klimawandel immer mehr zu. Die tödlichsten Überflutungsphänomene, denen Dörfer und Städte an den Küsten ausgesetzt werden, sind Tsunamis. Allgegenwärtig ist damit auch die Gefahr, dass Häuser unter der Last der Wassermassen zerstört werden. Den Prozess des Einsturzes von Gebäuden bei Extremereignissen will Prof. Nils Goseberg von der TU Braunschweig genauer untersuchen. Ziel des Projekts „AngryWaters“ ist die Entwicklung eines Simulationswerkzeugs, um besser vorhersagen zu können, wie weit das Wasser bei existierender Bebauung ins Landesinnere vordringt. Dafür erhält er einen ERC Consolidator Grant (siehe unten).
„Über den ERC Grant freue ich mich riesig“, sagt Professor Nils Goseberg vom Leichtweiß-Institut für Wasserbau, kurz LWI. „Er ist eine große Auszeichnung für unsere bereits geleistete Arbeit in einer originären Ingenieurdisziplin.“ Mit den ERC-Stipendien werden europaweit exzellente Wissenschaftler*innen unterstützt, die in ihren Projekten innovative Forschungszugänge entwickeln oder riskante, neue Forschungsfragen bearbeiten. An der TU Braunschweig wurden bislang insgesamt neun Professoren mit einem ERC Grant ausgezeichnet.
„Das Projekt ‚AngryWaters‘ spiegelt das Engagement unserer Universität für innovative Forschung und ihre Beiträge zur Lösung globaler Herausforderungen wider. Ich gratuliere Professor Nils Goseberg zu dieser herausragenden Auszeichnung“, sagt die Präsidentin der TU Braunschweig, Angela Ittel. „Diese bedeutende Förderung unterstreicht die hervorragende Infrastruktur, die wir an der TU Braunschweig bieten und vor allem aber die Exzellenz und Relevanz der Forschung von Professor Goseberg für ein besseres Verständnis der Auswirkungen von Extremereignissen an der Küste.“
Extremereignisse bedrohen Gebäude und Menschen
Im gleichlautenden Forschungsprojekt nimmt der Wissenschaftler die sogenannten „AngryWaters“ in den Blick. Mit den „wütenden Gewässern“ meint Professor Goseberg extreme Strömungsereignisse. Das können Tsunamis sein, die Küstenstädte überfluten und zerstören – wie 2011 nach dem Erdbeben vor der Küste von Japan. Dazu können auch aber auch Dammbrüche von Talsperren zählen, die aufgrund ihrer langen Standdauer nicht mehr sicher sind – wie im vergangenen Jahr im libyschen Derna, als zwei Staudämme brachen und eine sieben Meter hohe Flutwelle die Stadt traf. All diese Extremereignisse stellen eine erhebliche Gefahr für Gebäude und die darin lebenden Bewohner*innen dar.
Doch wie können die Menschen an Küsten und in der Nähe von Flüssen besser geschützt werden? Um das Vordringen der Wassermassen besser vorhersagen zu können, muss auch der Einsturzprozess von Gebäuden besser verstanden werden. Das Problem: Das Einstürzen der Bebauungsstrukturen lässt sich bislang weder mit Simulationen noch mit Experimenten gut erfassen, da wesentliche Voraussetzungen für die Verkleinerung der Prozesse ins Labor nicht bekannt sind.
Die bisherige Forschung konzentrierte sich vor allem auf die Wechselwirkung zwischen Strömung und Bauwerken unter der Annahme, dass die Bauwerke stehen bleiben und zudem feste gefüllte Körper sind. Mit dem Promotionsprojekt von Clemens Krautwald vom LWI haben die Braunschweiger Wissenschaftlern das Kollabieren eines Gebäudekörpers im Großen Wellenkanal erstmalig realisieren können. Eine initiale Publikation aus dem Jahr 2022 bildete einen wesentlichen Baustein für die Machbarkeit der vorgeschlagenen Arbeiten.
Großer Wellenströmungskanal erhält riesige Dammbruchklappe
Das „AngryWaters“-Projekt zielt darauf ab, den dynamischen Kollaps-Prozess zu modellieren und die Wechselwirkungen zwischen Wasser und einstürzenden Gebäuden zu erfassen. Um den Einsturz von Bauwerken auf verschiedenen Skalen zu simulieren, wird Professor Goseberg die Wellenkanäle in Braunschweig und am Forschungszentrum Küste in Hannover nutzen. Im Großen Wellenströmungskanal (GWK+) können die Wissenschaftler*innen fast im Maßstab 1:1 arbeiten. Ergänzt wird der GWK+ dazu bis Ende 2024 durch eine sogenannte Dammbruchklappe, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).
„Die Klappe können wir in Wandnischen verankern und so diese einzigartige Forschungsanlage auch für Dammbruchströmungen nutzen. Das zeigt, mit welchen großen Pfunden wir in Braunschweig und Hannover wuchern können“, betont Professor Goseberg.
Die Klappe, hinter der die Forschenden das Wasser bis zu drei Meter hoch aufstauen können, öffnet sich mit einem Schwingmechanismus wie bei einem Garagentor und entlädt das Wasser dammbruchartig in einem Schwall. „Die Größenordnungen sind mit denen in der Natur vergleichbar“, so Goseberg. „Acht Meter Strömungsgeschwindigkeit pro Sekunde, fast eineinhalb Meter Fließtiefe auf der Landseite.“ Zunächst werden die Wissenschaftlern den Prozess mit einzelnen Gebäudeteilen simulieren, später mit einem ganzen Haus.
Im 90 Meter langen Wellenkanal in der Versuchshalle des Leichtweiß-Instituts für Wasserbau in Braunschweig werden die Forschenden die Experimente mit einer kleineren Dammbruchklappe durchführen. „So können wir in Hannover die größeren Längenskalen untersuchen und in Braunschweig die kleineren – wir sprechen hier von den Maßstäben 1:10 und 1:15.“ Aus diesen unterschiedlichen Maßstäben lassen sich neue Gesetzmäßigkeiten ableiten, mit denen die Gebäude für die Simulation entsprechend im Maßstab verkleinert werden können.
Wie weit fließt das Wasser?
Aufbauend auf diesen Untersuchungen wollen Professor Goseberg und sein Team ein Prognose-Tool entwickeln, das anhand der vorhandenen Experimentaldaten validiert wird. „Bei Extremereignissen wie einem Tsunami müssen auch die kollabierenden Gebäude und damit die Trümmer berücksichtigt werden, um genauere Vorhersagen darüber treffen zu können, wie weit sich das Wasser ausbreitet, zu welchem Zeitpunkt es wie hochsteigt und welche Evakuierungsmaßnahmen erforderlich sind“, betont Professor Goseberg. Das ist entscheidend für die Entwicklung sicherer Küsten- und Flussgebiete und wird die Vorsorgefähigkeit entscheidend verbessern.
Damit bildet das Projekt „AngryWaters“ auch in der im Januar gestartete Forschungsmission der Deutschen Allianz Meeresforschung einen fundamentalen Baustein: „mareXtreme“ untersucht, wie das Risikomanagement bei marinen Extremereignissen und Naturgefahren verbessert werden kann. „Diese Projekte sind wichtig für Niedersachsen, für Norddeutschland, aber auch weltweit. Das Thema der Extremgefahren an Küsten wird wegen der Dynamik durch den Klimawandel deutlich an Relevanz gewinnen und durch die starke Beteiligung an mareXtreme und dem ERC-Projekt sind wir in Niedersachsen sehr präsent und direkt am Puls dessen, was getan werden muss.“
Über den ERC Consolidator Grant
Mit dem Consolidator Grant fördert der ERC exzellente Wissenschaftler*innen, deren Promotion zwischen sieben und zwölf Jahren zurückliegt und die sich in der Etablierungsphase ihrer eigenen unabhängigen Forschung mit einem eigenen Team befinden. Mit der Förderung sollen die Wissenschaftler*innen bei ihren innovativen Forschungsvorhaben und dem weiteren Ausbau ihrer Arbeitsgruppe unterstützt werden. Die Fördersumme beträgt bis zu zwei Millionen Euro über einen Zeitraum von fünf Jahren und kann im Einzelfall auf bis zu drei Millionen Euro erhöht werden.