Der Vinschgau im Westen Südtirols ist das größte zusammenhängende Apfelanbaugebiet in Europa. Der Südtiroler Apfel ist bekannt für sein perfektes Aussehen. Dafür werden in der Produktion oft große Mengen an Pestiziden eingesetzt. Eine aktuelle Studie der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU) und der Universität für Bodenkultur in Wien (BOKU) zeigt, dass diese Pestizide nicht auf der Anbaufläche bleiben, sondern im ganzen Tal bis in Höhenlagen zu finden sind. Die festgestellten Pestizidmischungen der vielen Stoffe können sich schädlich auf die Umwelt auswirken.
Der Vinschgau liegt in Südtirol, das vor allem mit Bergen und Natur in Verbindung gebracht wird. In der nördlichsten Provinz Italiens sind über 7.000 Apfelbauern tätig, die zehn Prozent aller europäischen Äpfel produzieren. Der konventionelle Anbau setzt bei der Bekämpfung von Schädlingen wie dem Apfelwickler und Pilzkrankheiten, die Schorf auf den Früchten auslösen, vor allem auf synthetische Pestizide, die mit Gebläse verteilt werden. Dadurch ist vor allem bei Wind eine hohe Abdrift in die Umgebung möglich.
Lange gingen selbst Fachleute davon aus, dass die synthetischen Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel im Wesentlichen in der Apfelanlage verbleiben, dort also, wo sie aufgebracht wurden und maximal noch im nahen Umfeld zu finden sind. Grundlage dieser Annahme seien jedoch veraltete und weniger empfindliche Messmethoden und dass Pestizide abseits der Produktionsflächen einfach nicht erhoben wurden, erklärt Umweltwissenschaftler Carsten Brühl von der RPTU in Landau. Mit der modernen Analytik von heute kann man bis zu einhundert Pestizide gleichzeitig und auch in geringen Konzentrationen messen.
Tatsächlich zeigen Studien, dass sich Pestizide deutlich über die landwirtschaftlich genutzte Fläche ausbreiten und etwa Insekten in Naturschutzgebieten belasten (Brühl et al 2022, Scientific Reports) oder in der Umgebungsluft fernab der Landwirtschaft zu finden sind (Zaller et al. 2022, Science of the Total Environment).
Im Vinschgau wurde bereits vor einigen Jahren ein Rückgang von Schmetterlingen auf den Bergwiesen beobachtet. Fachleute vermuteten einen Zusammenhang mit dem Einsatz von Pestiziden im Tal, aber es gibt kaum Studien zur Frage, wie weit aktuelle Pestizide tatsächlich transportiert werden und wie lange sie in Boden und Pflanzen verbleiben. Dies war der Anlass für Brühl und seinen Kollegen Johann Zaller von der BOKU, im Vinschgau die Verteilung von Pestiziden in der Umwelt zu untersuchen.
Messung der Pestizidausbreitung erstmals auf großer Skala
„Aus ökotoxikologischer Sicht ist das Vinschgauer Tal besonders interessant, da man im Tal hochintensiven Anbau mit vielen Pestiziden hat und auf den Bergen empfindliche alpine Ökosysteme, die teilweise auch streng geschützt sind“, erläutert Brühl. Gemeinsam mit seinem Team sowie Fachkollegen der BOKU und aus Südtirol hat er die Pestizid-Belastung auf Landschaftsebene untersucht – entlang des ganzen Tals bis in Höhenlagen.
Den Verbleib von Pestiziden auf so großer Skala systematisch aufzunehmen und darzustellen ist ein Novum in den Umweltwissenschaften. Für ihre Studie haben die Forscher insgesamt elf sogenannte Höhentransekte entlang der gesamten Talachse untersucht, Strecken, die sich vom Talboden von 500 Metern Seehöhe bis auf die Berggipfel mit 2.300 Metern erstrecken. Entlang dieser Höhentransekte entnahm das Team auf Höhenstufen alle 300 Meter Untersuchungsmaterial. An insgesamt 53 Standorten wurden so Pflanzenmaterial gesammelt und Bodenproben gezogen.
Die anschließende Analyse zeigte: Insgesamt nehmen die Pestizide in den Höhen und mit Abstand zu den Apfelplantagen zwar ab, aber selbst im oberen Vinschgau mit kaum Apfelanbau haben die Forscher noch mehrere Substanzen in Mischungen im Boden und in der Vegetation nachgewiesen.
„Wir fanden die Mittel in entlegenen Bergtälern, auf den Gipfeln und in Nationalparks. Dort haben sie nichts verloren“, unterstreicht Brühl.
Die Stoffe verbreiten sich aufgrund der teilweise starken Talwinde und der Thermik im Vinschgau weiter als man aufgrund ihrer chemischen und physikalischen Eigenschaften annehmen könnte. Bereits in den gemessenen niedrigen Konzentrationen können Pestizide zu sogenannten sublethalen, also nicht direkt tödlichen Effekten bei Organismen führen, die nicht Ziel der Bekämpfung sind. Für Schmetterlinge könnte das beispielsweise eine Verringerung der Eiablage bedeuten, was dann zu einer Populationsreduktion führt. Nur an einer einzigen Stelle haben die Forscher in den Pflanzen keine Wirkstoffe gefunden – interessanterweise gibt es an jener Stelle auch sehr viele Schmetterlinge.
Knapp 30 Pestizide nachgewiesen
Insgesamt 27 verschiedene Pestizide fanden die Forscher in der Umwelt, betonen aber zugleich, dass sie ihre Messungen Anfang Mai durchgeführt haben und dass im Verlauf der Wachstumssaison bis zur Ernte weitere Mittel zum Einsatz kommen. Durchschnittlich fast 40 Anwendungen von Pestiziden während der Saison sind üblich. Damit seien komplexere Mischungen mit mehreren Substanzen und immer wieder auftretende höhere Konzentrationen wahrscheinlich. In fast der Hälfte aller Boden- und Pflanzenproben konnten die Forscher das Insektizid Methoxyfenozid messen, dass in Deutschland seit 2016 aufgrund der Umweltschädlichkeit nicht mehr zugelassen ist.
Wie sich chronische Belastungen durch Pestizide mit Mischungen in niedrigen Konzentrationen auf die Umwelt auswirken, ist bisher kaum bekannt; auch weiß man bislang wenig über ein mögliches Zusammenwirken verschiedener Substanzen. Bei der Umweltrisikobewertung im Rahmen des europäischen Zulassungsverfahrens werden Mischungen nicht bewertet, sondern die Stoffe werden einzeln betrachtet. „Mit der Realität der Anwendungen auf dem Acker oder in der Obstplantage und dem Verbleib in der Umwelt hat dies nichts zu tun“, so Brühl.
Wie weit verbreitet die Pestizidbelastung im Boden und in den Pflanzen war und dass selbst Nationalparks betroffen sind, die eigentlich zum Schutz gefährdeter Pflanzen und Tiere eingerichtet wurden, beunruhigt die Forscher.
„Die Konzentrationen, die wir fanden, waren zwar nicht hoch, aber es ist erwiesen, dass Pestizide das Bodenleben schon bei sehr geringen Konzentrationen beeinträchtigen“, erklärt Bodenexperte Johann Zaller von der BOKU.
Außerdem fand das Team immer einen Cocktail aus verschiedenen Pestiziden, deren Wirkungen sich möglicherweise verstärken. „Die Ergebnisse zeigen auch, dass die Technik der Pestizidausbringung im Apfelanbau stark verbesserungswürdig ist, sonst würden nicht so viele Pestizide abseits der Apfelanlagen gefunden werden“, ist Zaller überzeugt. Außerdem sei es unwirtschaftlich, wenn die Pestizide nicht gezielt auf die Zielorganismen aufgebracht werden.
„Wir wissen aus früheren Studien (Caroline Linhart et al 2021, Environmental Sciences Europe), dass Kinderspielplätze in der Nähe der Apfelanlagen mit Pestiziden belastet sind. Zum Teil sogar übers ganze Jahr hindurch“, so Mit-Autor und Pestizid-Kritiker Koen Hertoge, der im Vinschgau lebt. „Die aktuellen Ergebnisse zeigen eine neue Dimension des Problems, weil auch weit entlegene Gebiete mit Pestiziden belastet sind. Maßnahmen zum Schutz der Natur und der Gesundheit der Bevölkerung sind unbedingt notwendig und hier ist nun die neue Landesregierung gefordert.“
Fördern der funktionalen Biodiversität als Alternative zum Pestizideinsatz
Mögliche Maßnahmen wären eine Reduktion oder gar ein Verbot des Pestizideinsatzes, zumindest der in entlegenen Gebieten nachgewiesenen Stoffe, schlussfolgern die Forscher aus ihren Untersuchungsergebnissen. Im Gegenzug sei es wichtig, Bewirtschaftungspraktiken zu forcieren, die auch die Nützlings-Schädlingsinteraktionen, die sogenannte funktionale Biodiversität in der Apfelanlage und in der näheren Umgebung fördern. Gemeint sind damit beispielsweise naturnahe und blütenreiche Grasländer verteilt in der Landschaft, um den Gegenspielern von Apfelschädlingen einen Lebensraum zu bieten. Darüber hinaus müsste ein systematisches Monitoring eingeführt werden, das Messungen an verschiedenen Stellen übers Jahr vorsieht, um den ganzjährigen Pestizideintrag abschätzen zu können.
Die Verantwortung für die Verringerung des Pestizideinsatzes liegt nicht nur bei den Apfelbauern, sondern auch bei den großen Supermarktketten, so die Forscher: Diese könnten eine Akzeptanz von nicht ganz so perfekt aussehenden Äpfeln fördern. Das sei durchaus realistisch. Denn dass auch die Bevölkerung einem Pestizideinsatz kritisch gegenübersteht, zeigte etwa 2014 ein Bürgerentscheid der Marktgemeinde Mals im oberen Vinschgau: Hier sprach sich die Mehrheit gegen den konventionellen Apfelanbau aus.
Aus der beobachteten Verbreitung in der gesamten Landschaft schließt Carsten Brühl: „Wir brauchen Regionen, in denen Pflanzen und Tiere nicht mit diesen bioaktiven Substanzen kontaminiert sind. Eine Pestizidreduktion – auch mit großen Gebieten ohne den Einsatz von synthetischen Pestiziden – und gleichzeitige Ausweitung des biologischen Anbaus ist zur Reduktion der Landschaftsbelastung dringend notwendig. Unsere Ergebnisse zeigen, dass es drängt, jetzt zu handeln, wir haben leider keine Zeit mehr.“