Wenn Flüsse über die Ufer treten, können die Folgen verheerend sein, wie beispielsweise das katastrophale Hochwasser in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz vor drei Jahren gezeigt hat. Um in Zukunft die Überschwemmungsschäden in Grenzen zu halten und die Bewertung von Hochwasserrisiken zu optimieren, muss besser verstanden werden, welche Variablen in welchem Ausmaß zu extremen Ausprägungen von Überflutungen führen können.
Mit Methoden des Erklärbaren Maschinellen Lernens haben Forschende des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) nachgewiesen, dass Überschwemmungen extremer ausfallen, wenn mehrere Faktoren an deren Entstehung beteiligt sind. Die Forschungsarbeit wurde im Fachjournal Science Advances veröffentlicht.
Die Lufttemperaturen, die Bodenfeuchte und die Höhe der Schneedecke sowie die tägliche Niederschlagsmenge in den Tagen vor einem Hochwasser – sie alle sind Variablen, die bei der Entstehung von Hochwasser eine wichtige Rolle spielen. Um zu verstehen, welchen Anteil die einzelnen Faktoren an Überschwemmungen haben, haben Forschende des UFZ mehr als 3.500 Flusseinzugsgebiete weltweit untersucht und für jedes von ihnen Hochwasserereignisse zwischen den Jahren 1981 und 2020 analysiert.
Das Ergebnis: Lediglich für rund ein Viertel der fast 125.000 Hochwasserereignisse war die Niederschlagsmenge der alleinig ausschlaggebende Faktor. Die Bodenfeuchte war in etwas mehr als zehn Prozent der Fälle entscheidend, Schneeschmelze und Lufttemperatur spielten als alleiniger Faktor nur jeweils bei etwa 3 Prozent eine Rolle. Dagegen waren für etwas mehr als die Hälfte der Überschwemmungen (51,6 Prozent) mindestens zwei Faktoren verantwortlich. Dabei tritt mit etwa 23 Prozent die Kombination aus Niederschlagsmenge und Bodenfeuchte am häufigsten auf.
Allerdings fanden die UFZ-Forschenden bei der Datenanalyse auch heraus, dass drei oder sogar alle vier Variablen gemeinsam für ein Hochwasserereignis verantwortlich sein können. So sind zum Beispiel Temperatur, Bodenfeuchte und Schneedecke immerhin für rund 5.000 Überschwemmungen entscheidend gewesen, während alle vier Faktoren bei etwa 1.000 Hochwasserereignissen bestimmend waren. Und nicht nur das:
„Wir konnten auch zeigen, dass die Hochwasserereignisse immer extremer ausfallen, je mehr Variablen dafür ausschlaggebend waren“, sagt Prof. Jakob Zscheischler, Leiter des UFZ-Departments „Compound Environmental Risks“ und Letztautor des Artikels.
Lag der Anteil mehrerer Variablen an einem 1-jährlichen Hochwasser bei 51,6 Prozent, waren es bei einem 5-Jahres-Hochwasser 70,1 Prozent und bei einem 10-Jahres-Hochwasser 71,3 Prozent. Je extremer die Hochwasser also ausfallen, desto mehr treibende Faktoren gibt es und desto wahrscheinlicher ist es, dass sie bei der Entstehung des Ereignisses zusammenwirken. Dieser Zusammenhang gilt oft auch für einzelne Flusseinzugsgebiete und wird von den Autoren als Hochwasserkomplexität bezeichnet.
Als Flusseinzugsgebiete mit geringer Hochwasserkomplexität stuften die Forscher zum Beispiel die nördlichen Regionen Europas und Amerikas sowie den Alpenraum ein, weil dort die Schneeschmelze als entscheidender Faktor für die meisten Hochwasser unabhängig von der Abflussmenge dominiert. Ähnliches gilt für das Amazonasbecken, wo oft die hohe Bodenfeuchte infolge der Regenzeit ein wesentlicher Auslöser von Überschwemmungen unterschiedlicher Ausprägung ist. In Deutschland sind zum Beispiel die Havel und die Zusam, ein Nebenfluss der Donau in Bayern, Flusseinzugsgebiete mit einer niedrigen Hochwasserkomplexität.
Zu den Regionen mit einer hohen Hochwasserkomplexität in den Flusseinzugsgebieten zählen dagegen vor allem Ostbrasilien, die Anden, Ostaustralien, die Rocky Mountains bis zur US-Westküste sowie die west- und mitteleuropäischen Ebenen. In Deutschland gehören dazu beispielsweise die Mosel und der Oberlauf der Elbe.
„Einzugsgebiete in diesen Regionen weisen in der Regel mehrere Überflutungsmechanismen auf“, sagt Jakob Zscheischler.
So können Flusseinzugsgebiete in den europäischen Ebenen von Überschwemmungen betroffen sein, die durch das Miteinander von hohen Niederschlägen, Schneeschmelze und hoher Bodenfeuchte verursacht werden.
Entscheidend für die Frage, wie komplex Hochwasserprozesse sind, ist aber auch die Beschaffenheit der Landoberfläche. Denn jedes Flusseinzugsgebiet hat seine eigenen Besonderheiten. Dazu zählten die Forschenden unter anderen den Klima-Feuchtigkeits-Index, die Bodentextur, die Waldbedeckung, die Größe des Flusseinzugsgebiets und das Flussgefälle.
„In trockeneren Regionen etwa sind die Mechanismen, die zur Entstehung des Hochwassers führen, heterogener. Für moderate Hochwasser reichen dort schon wenige Tage mit viel Regen, während es für extreme Hochwasser länger auf feuchte Böden regnen muss“, sagt der Erstautor Dr. Shijie Jiang, der mittlerweile nicht mehr am UFZ, sondern am Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena tätig ist.
Die Wissenschaftler nutzten für die Analyse das sogenannte Explainable Machine Learning, also erklärbares maschinelles Lernen. „Dabei sagen wir zuerst aus den zehn Treibern – Lufttemperatur, Bodenfeuchte und Schneedecke sowie dem wöchentlichen Niederschlag, der für jeden Tag als einzelner Treiber genutzt wird -, die Abflussmenge und damit die Größe des Hochwassers vorher“, erläutert Jakob Zscheischler.
Anschließend wird quantifiziert, welche Variablen und Variablenkombinationen wie viel zu der Abflussmenge eines bestimmten Hochwassers beigetragen haben. Erklärbares maschinelles Lernen nennt sich dieser Ansatz, weil man so versuche, die Black Box des trainierten Modells zwischen Hochwassertreibern und Abflussmenge im Hochwasserfall zu verstehen. „Mit dieser neuen Methodik können wir quantifizieren, wie viele Treiber und Treiberkombinationen relevant für die Entstehung und die Intensität von Überschwemmungen sind“, ergänzt Shijie Jiang.
Helfen sollen die Ergebnisse der UFZ-Forschenden künftig bei der Vorhersage von Hochwasserereignissen. „Unsere Studie leistet einen Beitrag, besonders extreme Hochwasser besser abschätzen zu können“, sagt Klimaforscher Jakob Zscheischler. Denn bislang erfolge die Abschätzung von Hochwasser, indem man weniger extreme Werte extrapoliere und so zu neuen Abschätzungen zur Abflussmenge komme. Das sei aber zu ungenau, da bei sehr extremen Hochwasserereignissen die einzelnen Faktoren einen anderen Einfluss bekommen könnten.