Gebirge sind vom Klimawandel besonders betroffen: Sie erwärmen sich schneller als das Flachland. Mit der Erwärmung schwindet die Schneedecke und Zwergsträucher dringen in höhere Lagen vor – mit starken Auswirkungen auf die jahreszeitlichen Abläufe der sensiblen alpinen Ökosysteme. Das zeigt eine neue Studie mit Beteiligung des Innsbrucker Ökologen Michael Bahn, der über mehrere Jahre Feldstudien im Hinteren Ötztal in Tirol durchgeführt hat.
Die Kombination aus reduzierter Schneedecke und der Ausbreitung von Zwergsträuchern – wie etwa von Heidekraut (Calluna vulgaris) – stört das zeitliche Zusammenspiel von Pflanzen und Bodenmikroorganismen, das für den Ablauf von Stoffkreisläufen in Ökosystemen wesentlich ist. Diese Störung führt dazu, dass Hochgebirgsökosysteme möglicherweise weniger in der Lage sind, jene wichtigen Nährstoffe zu speichern, die das Pflanzenwachstum unterstützen.
„Es gibt eine mikrobielle Winter-Gemeinschaft und eine Sommer-Gemeinschaft. Der Schnee spielt als isolierende Decke eine wichtige Rolle, um das empfindliche ökologische Gleichgewicht im hochalpinen Raum aufrecht zu erhalten. Eine frühere Schneeschmelze führt zu einem abrupten saisonalen Übergang der mikrobiellen Gemeinschaften. Die Funktion des Winter-Ökosystems wird dadurch verkürzt und seine Wirkweise eingeschränkt. Das hat Auswirkungen auf den Stoffhaushalt und die Pflanzenproduktivität und bringt das Gleichgewicht des Ökosystems in Gefahr“, erklärt Prof. Michael Bahn, Leiter der Forschungsgruppe „Funktionelle Ökologie“ am Institut für Ökologie der Uni Innsbruck.
Zahlreiche Versuchsflächen auf 2500 Metern Höhe oberhalb von Vent im Ötztal lieferten Daten für eine umfassende internationale Studie, die nun im Fachmagazin Global Change Biology veröffentlicht wurde. Bahn führte diese Forschungsarbeit gemeinsam mit Kolleg:innen der Universität Manchester unter der Leitung von Richard Bardgett sowie Expert:innen des Helmholtz Zentrums München durch.
Abläufe aus der Balance
Jedes Jahr kommt es in Gebirgsökosystemen zu starken saisonalen Verschiebungen von Nährstoffen zwischen Pflanzen und den mikrobiellen Gemeinschaften in alpinen Böden. Nach der Schneeschmelze im Frühjahr beginnen Pflanzen zu wachsen und konkurrieren mit Bodenmikroben um Nährstoffe, wodurch eine Verschiebung der Nährstoffspeicherung vom Boden zu den Pflanzen ausgelöst wird. Dieser Prozess kehrt sich im Herbst um, wenn Pflanzen absterben und Nährstoffe durch abgestorbene Blätter und Wurzeln wieder in den Boden zurückgeführt werden.
Im Winter wirkt Schnee wie eine isolierende Decke: Die Bodenmikroben bleiben aktiv und speichern die Nährstoffe in ihrer Biomasse, die die Pflanzen beim Austrieb im kommenden Frühjahr benötigen. Für dieses Zusammenspiel ist ein entsprechendes Timing dieser Abläufe im Jahresverlauf daher essentiell – und dieses droht nun aus dem Gleichgewicht zu geraten:
„Der Klimawandel wird voraussichtlich bis Ende des Jahrhunderts in Teilen der europäischen Alpen einen Verlust der Schneedecke von bis zu 80 bis 90 Prozent verursachen und den Zeitpunkt der Schneeschmelze um 5 bis 10 Wochen vorverlegen“, betonen die Studienautoren Bahn und Bardgett. „Unsere Arbeit verdeutlicht, wie die Kombination verschiedener Folgen des Klimawandels wichtige Ökosystemfunktionen in alpinen Ökosystemen schwerwiegend stören kann, mit potenziell langfristigen Folgen für Stoffkreisläufe und die Artenvielfalt.“
Wie Ökosysteme auf das Zusammenspiel von mehrere gleichzeitig einwirkenden Faktoren des globalen Wandels reagieren, stellt die Forschung aufgrund der Komplexität der Systeme immer noch vor große Herausforderungen. Wie diese neue Studie zeigt, können Wechselwirkungen zwischen direkten und indirekten Klimawandelfaktoren, wie Veränderungen der Schneedecke und die Ausbreitung von Zwergsträuchern, zu plötzlichen und unerwarteten Veränderungen von grundlegenden Prozessen in Ökosystemen führen.