Seit 2010 misst die Uno-Umweltorganisation UNEP einmal im Jahr die Emissionslücke: die Differenz zwischen den Klimaschutzversprechen der Staaten und dem, was nötig wäre zum Begrenzen der Erderhitzung auf 1,5 (oder wenigstens unter 2) Grad. Die Botschaft dieser UNEP Emissions Gap Reports lautet: Klimapolitik braucht mehr Ehrgeiz. Eine neue Studie wendet dieses Analysekonzept jetzt explizit auf CO₂-Entnahmen an, also das Zurückholen des wichtigsten Klimagases aus der Atmosphäre. Die Studie wurde geleitet vom Berliner Klimaforschungsinstitut MCC (Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change).
„In den Emissions Gap Reports werden die CO₂-Entnahmen nur indirekt verbucht“, erklärt William Lamb, Wissenschaftler in der MCC-Arbeitsgruppe Angewandte Nachhaltigkeitsforschung, seit 2022 ein UNEP-Leitautor und auch Leitautor der neuen Untersuchung. „Schließlich sind ja der gängige Maßstab für die Klimaschutz-Versprechen die Netto-Emissionen, also der Ausstoß abzüglich der Entnahmen. Wir machen nun die spezielle Ambitionslücke beim Hochskalieren der Entnahmen transparent. Diese planetarische Müllabfuhr wird schon in Kürze ganz neue Anforderungen an die Politik stellen, sie wird in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts womöglich zur zentralen Säule des Klimaschutzes.“
Laut der Studie könnten, wenn nationale Ziele vollständig umgesetzt werden, die jährlichen vom Menschen initiierten CO₂-Entnahmen bis 2030 um maximal 0,5 Gigatonnen steigen (also 500 Millionen Tonnen) und bis 2050 um maximal 1,9 Gigatonnen. Dagegen steht ein Steigerungsbedarf von 5,1 Gigatonnen bis 2050 in einem „Fokus-Szenario“, welches das Forschungsteam aus dem jüngsten Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC als typisch heraushebt: Dort wird die Erderhitzung, gerechnet im gesamten Verlauf dieses Jahrhunderts, auf 1,5 Grad begrenzt, und als Kern der weltweiten Klimaschutzstrategien abgebildet wird ein besonders rascher Ausbau der erneuerbaren Energien mit Drosselung fossiler Emissionen. Trotzdem beruht dieses Szenario auch auf einem schnellen Hochskalieren der CO₂-Entnahmen. Die Lücke für das Jahr 2050 beträgt mindestens 3,2 Gigatonnen (5,1 minus maximal 1,9).
Ein weiteres, ebenfalls vom IPCC abgeleitetes Fokus-Szenario unterstellt eine signifikante Absenkung der globalen Nachfrage nach Energie, ausgelöst durch politisch initiierte Verhaltensänderungen. Hier würden die CO₂-Entnahmen weniger stark steigen: 2,5 Gigatonnen im Jahr 2050. Die nationalen Ziele zur CO₂-Entnahme wären, vollständig umgesetzt, gemessen an diesem Szenario annähernd ausreichend, mit einer Lücke im Jahr 2050 von 0,5 Gigatonnen.
Das Forschungsteam weist auf das Problem der Nachhaltigkeitsgrenzen beim Hochskalieren der CO₂-Entnahmen hin. So gefährdet der damit einhergehende Landbedarf irgendwann die Biodiversität und die Ernährungssicherheit. Trotzdem gibt es noch viel Raum für die Gestaltung von fairer und nachhaltiger Landnutzungspolitik. Zudem werden neuartige Entnahme-Optionen wie Luftfilter-Anlagen oder „beschleunigte Gesteinsverwitterung“ von der Politik bislang kaum forciert. Diese Optionen holen aktuell nur 0,002 Gigatonnen jährlich aus der Atmosphäre, im Vergleich zu 3 Gigatonnen durch konventionelle Optionen wie Aufforstung, und sie dürften sich bis 2030 kaum steigern. Laut der Szenarien müssten sie bis 2100 die konventionellen Optionen in ihrer Leistungskraft überholen.
Weil bislang nur 40 Länder in ihren „Langfriststrategien für eine emissionsarme Entwicklung“ die Entnahme-Planung beziffert haben, stützt sich die Studie auch auf weitere nationale Dokumente sowie auf behelfsmäßige Annahmen. „Die Rechnung sollte sicherlich noch verfeinert werden“, sagt MCC-Forscher Lamb. „Aber unser Aufschlag mit den Fokus-Szenarien erweitert den Diskus darüber, wieviel CO₂-Entnahme zum Einhalten des Paris-Abkommens nötig ist. So viel ist klar: Ohne eine schnelle Senkung der Emissionen in Richtung null, quer durch alle Sektoren, wird das 1,5-Grad-Limit in keinem Fall eingehalten.“