Landverlust statt Landlust

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Erster Teil der Reihe:

Die Dialektik von Stadt und Land vor dem Hintergrund der Entwertung ländlicher Räume

„Der weltweite Urbanisierungsprozess bestimmte lange Zeit den Architektur- und Stadtdiskurs. Im Zusammenhang mit den Debatten um Nachhaltigkeit, schrumpfende Städte und alternative Praktiken lohnt es, sich erneut der dialektischen Beziehung zwischen Stadt und Land zuzuwenden, die von Beginn an den Stadtdiskurs der Moderne mit dessen sozialreformerischer Tendenz bestimmt hat. Die Suche nach einem neuen Stadt-Land-Verhältnis ist somit als Indikator für die damit verbundenen gesellschaftlichen Fragestellungen zu verstehen.“ Arch+ (Ausgabe April 2017)

Eingangs möchte ich, realpolitisch unabhängig, auf einen Grundgedanken zweier deutscher Vordenker, Marx und Engel verweisen, denen es darum ging.  die Bewegungsgesetze der gesellschaftlichen Entwicklung zu entdecken und die Selbsterzeugung des in Gesellschaft produzierenden Menschen in  Ausein- andersetzung mit der materiellen Natur theoretisch zu erfassen“ 1

Es geht in der kulturellen Evolution immer um die Dialektik der Kulturräume, also um ein Miteinander und um ein Gegeneinander, das Neues gebiert. Es gibt keine Städte ohne Dörfer! Es ist ein interdependentes System. Ein System, welches in Gefahr gerät. Eine Gefahr, die teilweise im Nebel publizistischer Produkte, die sich der sogenannten Landlust verschrieben haben, verschwindet. Die aber auch in der Fachöffentlichkeit noch nicht den politischen und wissenschaftlichen Stellenwert erreicht hat, die ihr angemessen wäre.

„Mit der fortschreitenden Urbanisierung werden die Gegensätze von Stadt und Land, Zentrum und Peripherie, Kultur und Natur zunehmend aufgelöst. Der hierarchische Blick von der Stadt auf das Land wird umgekehrt, die romantische Verklärung des ländlichen Raumes als Ort der Natürlichkeit und Ursprünglichkeit, als Opfer der Industrialisierung und Verstädterung in Frage gestellt: Das Land wird zu einem ambivalenten Akteur, in vielerlei Hinsicht zum Vorreiter. Dem Philosophen Armen Avanessian zufolge sind Städte heute nur mehr vom Land aus zu betrachten, und dieses Land sei genauso wenig „natürlich“ wie der Rest der Natur“ Arch+ (Ausgabe April 2017) 1

Und auch anders als bei den bunten Bildern: Nicht Landlust, sondern vielfach Landfrust macht sich breit. Der Strukturverlust in vielen Regionen nimmt ein bedrohliches Ausmaß an. Selbst in wirtschaftlichen starken Regionen der Republik ist die Entvölkerung der ländlichen Räume spürbar, mit der Ausnahme der Speckgürtel florierender Städte. Hier handelt es sich aber natürlich nicht um eine Entwicklung ländlicher Räume, sondern um die Funktion einer urbanen Überdruckregulation.

Die Bevölkerungszahlen in Deutschland entwickeln sich einer Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge in den kommenden 15 Jahren extrem auseinander. Während ländliche Regionen teils dramatisch Einwohner verlieren, werden die städtischen Ballungsräume immer größer. Die Folge wird sein, dass es auf dem Land zunehmend schwieriger werden wird, auch nur die Grundversorgung sicherzustellen. Brigitte Mohn, Vorstand der Stiftung warnt vor dramatischen Folgen für den ländlichen Raum: „Es wird für schrumpfende und alternde Regionen immer schwieriger, eine gute Infrastruktur zu gewährleisten“,[1] Denn auch einwohnerschwache Regionen müssten flexible Mobilitätsangebote, schnelles Internet und eine angemessene medizinische Versorgung bieten.

Aber worüber sprechen wir eigentlich, wenn wir die ländlichen Räume thematisieren? Das Lexikon der Geographie sagt: „Ländlicher Raum, komplexer Begriff, der stark dem Wandel unterliegt und kaum durch eine allgemeingültige Definition fassbar ist. In der Raumordnung wird der ländliche Raum meist als „Restgröße“ angesehen, als Gebiet, das weder Verdichtungsraum noch Randzone eines Verdichtungsraumes ist und in diesem Sinne im Gegensatz zum städtischen bzw. urbanen Raum steht.“ [2]

Eine einheitliche Definition für die ländlichen Räume gibt es nicht, deutlich ist aber: Sie unterscheiden sich enorm in ihrer Entwicklung und ihren Perspektiven.  Prägend für diese Siedlungsform ist eigentlich die Landwirtschaft – eigentlich! In den vergangenen Jahrzehnten hat hier aber eine tiefgreifende Veränderung, wenn nicht sogar eine  Revolution stattgefunden:  Zwar wird heute noch immer die Hälfte der Landesfläche landwirtschaftlich genutzt, doch dazu werden immer weniger Menschen gebraucht. War 1950 noch jeder vierte Berufstätige bundesweit in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigt, ist es heute nur noch jeder siebzigste.

Selbst dort, wo es weit und breit nur Wälder und Felder gibt, täuscht der Eindruck: Auch hier verdienen nicht mal vier Prozent der Landbewohner ihr Geld in der Landwirtschaft. Insgesamt gilt also: Das Dorf ist in vielen Fällen nur noch Wohnort für Pendler und landwirtschaftliche Rentner. Für die Entleerung der ländlichen Räume sind aber nicht nur die strukturellen Veränderungen und Entwicklungen in der Landwirtschaft oder andere wirtschaftliche Gründe verantwortlich, sondern vielfach die persönliche Lebensplanung junger Menschen auf dem Lande.  Die entscheiden sich beispielsweise gegen die harte und unregelmäßige Arbeit auf den Höfen und ziehen in die Städte.

Dabei gilt es anzumerken, dass es nicht nur die Last der Arbeit ist, die die jungen Menschen vertreibt, sondern auch das Nichtvorhandensein oft als selbstverständlich wahrgenommener Infrastruktur wie Internetabdeckung und ÖPNV Anbindung, das Ende der Dorf-Gastronomie und ja oft sogar das Fehlen jedweder Gemeinschaftseinrichtung. Und ziehen die Jungen in die Städte, dann stirbt das Dorf von innen. Die historischen Höfe im Kern des Dorfes bleiben ohne Nachfolger und die Menschen werden im Alter zum Versorgungsfall. Die Alten bleiben zurück, das Dorf vergreist.

Alterung wird meist als eine Komponente des demografischen Wandels in ländlichen Räumen betrachtet. Doch beeinflusst die veränderte Altersstruktur vor Ort zugunsten der höheren Lebensalter selbst wiederum die Lebenssituation der Älteren. Ältere Mitmenschen nehmen, so ein Forschungsergebnis, ihre Gemeinde als sicherer und lebendiger wahr, wenn die Altersstruktur ausgeglichener ist oder es mehr junge Menschen gibt, wie eine Studie aus Österreich herausarbeitet.[3]

Die Studie von Baumgartner, Kolland und Wank hat dabei besonders auf die Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe Älterer in ländlichen Räumen geschaut. Das hier sogenannte Teilhabepotenzial sei, so die Studie weiter, abhängig von Faktoren wie etwa dem Alter, der Gesundheit und der Bildung. Zugleich spiele das räumliche Umfeld eine Rolle, in erster Linie das Wohnumfeld und der Aktionsraum, der für tägliche Besorgungen aufgesucht wird. So sei beispielsweise der Aktionsradius von Älteren kleiner als der, der jüngerer Menschen und finde hauptsächlich im Nahbereich der Wohnung oder des Hofes statt. Dieser Nahbereich ist für Ältere von besonderer Bedeutung, etwa als Treffpunkt mit anderen Menschen. Und genau dieser Nahbereich verschwindet auf dem Lande immer mehr.

Eine Folge dieser Entwicklung ist das Dörfer- und Höfesterben. Der Brandenburgische Landesbauernverband meldete im Frühjahr 2017, dass in den vergangenen zwei Jahren 90 Milchviehbetriebe ihren Betrieb eingestellt haben. Das Wiesbadener Statistische Bundesamt für die gesamte Republik für den Zeitraum Frühjahr 2013 bis März 2016 einen Rückgang der Viehhaltungsbetriebe um acht Prozent. Von den Schweinefleischerzeugern gaben sogar 18 Prozent auf – und hier fast immer die kleineren Höfe. Damit verändert sich die Struktur auf dem Land grundlegend.

Die landwirtschaftlichen Flächen werden altersbedingt abgeben, verpachtet oder verkauft und dies in der Regel nicht an andere Landwirte, sondern an Agrarunternehmen und internationale Konzerne.  Zu den größten Besitzern von Ackerland in Deutschland gehören inzwischen Versicherungen wie die Münchner Rück, Betriebe der Lebensmittelindustrie wie die Südzucker AG, Abfallbeseitiger wie Rethmann oder Möbelfabrikanten wie die Steinhoff-Gruppe.

Laut Statistischem Bundesamt ist die Zahl von Gesellschaften bürgerlichen Rechts (GbR) und anderen Personengesellschaften als Betreiber von Agrarbetrieben deutlich angestiegen, seit 2010 um ein Viertel auf 26.000. Gleichzeitig ist aber die Zahl der Bauernhöfe stark rückläufig. [4]

Die Wissenschaftler hatten die Eigentumsentwicklung von insgesamt 676 Agrarunternehmen in acht Landkreisen Ostdeutschlands analysiert. Im Untersuchungszeitraum 2007 bis Ende 2014 wechselten 87 der Betriebe den

Besitzer. Am Ende befand sich knapp ein Fünftel der Höfe in den Landkreisen Vorpommern-Rügen und Mecklenburgische Seenplatte in der Hand nichtlandwirtschaftlicher Investoren.[5]

„Überregional aktive Investoren (das heißt Kapitaleigentümer, die nicht vor Ort wohnen) treten vor allem in Mecklenburg-Vorpommern in Erscheinung. Rund 34 % der von juristischen Personen bewirtschafteten Landwirtschaftsfläche in den zwei untersuchten Landkreisen gehören zu Unternehmen, die sich im Mehrheitseigentum von nicht ortsansässigen Personen befinden. Knapp die Hälfte davon (16 %) entfällt auf landwirtschaftsnahe Investoren (überwiegend Landwirte aus anderen Bundesländern), die übrigen 18 % entfallen auf nichtlandwirtschaftliche Investoren aus verschiedensten Wirtschaftsbereichen. Von der analysierten Fläche waren 20 % schon vor 2007 im Besitz dieser Investoren, 14 % sind im Zeitraum 2007 bis 2014 übernommen worden. In den anderen sechs Untersuchungsregionen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sind die Anteile überregional aktiver Investoren und auch die Übernahmeaktivitäten in jüngerer Zeit teils deutlich geringer.“ Thünen Institut

Ein Blick auf die weltweite Entwicklung macht die Dinge noch deutlicher: Nach Angaben des German Institute of Global and Area Studies und des Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien sind rund um die Welt seit dem Jahr 2000 26,7 Millionen Hektar Agrarflächen in die Hand von Investoren übergegangen. [6] Die Gebiete entsprechen etwa der Gesamtfläche des Vereinigten Königreichs plus Sloweniens. Und diese Entwicklung ist schon lange hier bei uns im Land angekommen, auch wenn der Rechtsstadt noch ein kleiner Schutzwall ist. So sind im Bodenrecht Klauseln verankert, die eigentlich sicherstellen sollen, dass primär Landwirte beim Ackerkauf zum Zuge kommen, doch werden diese Klauseln inzwischen durch allerlei juristische Finessen geschickt umgangen. So greifen diese gesetzlich verankerten Barrieren nicht, wenn ganze Betriebe im Zuge des Kaufs von Anteilen übernommen werden.

Viele Betriebe firmieren inzwischen als juristische Personen z.B. als GmbH und wenn Geschäftsanteile einer GmbH gekauft werden, wandert die Fläche automatisch zum Käufer.  Dieser Flächenübergang zum Käufer im Zuge des Anteilskaufs ist aber nicht dem landwirtschaftlichen Bodenrecht unterworfen, so dass insbesondere hierdurch vermehrt Landwirtschaftsflächen zu außerlandwirtschaftliche Investoren wandern. Ein Prozess, der zurzeit deutlich an Fahrt aufnimmt und in der Wissenschaft schon zu einer neuen Begrifflichkeit geführt hat: Ländlicher Neo-Feudalismus.

Diese Entwicklung wird durch weltweit galoppierende Bodendegradation forciert. Bodendegradierung ist eine dauerhafte – und wohl irreversible Veränderung der Strukturen und Funktionen von Böden oder deren Verlust, die durch physikalische und chemische oder biotische Belastungen entstehen und die Belastbarkeit der jeweiligen Systeme überschreiten.  Der Boden wird schlicht unfruchtbar und steht für eine Nahrungsmittelproduktion nicht mehr zur Verfügung.

[1] https://www.bertelsmannstiftung.de/de/unsereprojekte/wegweiserkommunede/projektnachrichten/bevoelkerungsvorausberechnung/

[2] Das Geographielexikon Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg

[3] Baumgartner, Katrin; Wanka, Anna; Kolland, Franz: Altern im ländlichen Raum: Entwicklungsmöglichkeiten und Teilhabepotentiale. Stuttgart: Kohlhammer, 2013.

[4] https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Wirtschaftsbereiche/LandForstwirtschaftFischerei/Landwirtschaftlic heBetriebe/Tabellen/BetriebsgroessenstrukturLandwirtschaftlicheBetriebe.html

 

[5] www.thuenen.de/media/publikationen/thuenenreport/ThuenenReport_35.pdf

[6] https://www.gigahamburg.de/de/system/files/iz_publications/dokline_ueberreg_2012_1.pdf