Etwa ein Zehntel der Landflächen auf dem Globus ist mit Gletschereis bedeckt. Doch die Eisschilde der Erde ziehen sich infolge der globalen Erwärmung immer weiter und immer schneller zurück. Dabei geben sie Gelände frei, das seit Jahrtausenden mit Eis bedeckt war, kaum Kontakt zu Luft, Licht und Nährstoffen hatte und damit sehr unwirtlich für Leben war. Nach dem Schmelzen der Gletscher besiedeln über die Zeit hinweg verschiedene Lebewesen das nun zugängliche Grundgestein, reichern Nährstoffe an und bilden so neue Böden und Ökosysteme.
Weil Boden unter den richtigen Umständen ein bedeutender Kohlenstoffspeicher sein kann, ist es für Wissenschaft und Gesellschaft von großem Interesse, wie genau die Entstehung neuer Böden nach dem Abschmelzen von Gletschern abläuft. Die allerersten Pioniere auf dem unwirtlichen Terrain sind Mikroorganismen, wie Bakterien und Pilze.
„Mikroben bestimmen, wie viel Kohlenstoff und Stickstoff in den jungen Böden gespeichert werden kann“, erklärt Professor William Orsi vom Department für Geo- und Umweltwissenschaften der LMU. „Wie diese Nährstoffstabilisierung durch mikrobielle Aktivität genau abläuft, ist jedoch kaum bekannt.“
Orsi und sein Team wollten genau das besser verstehen und haben dafür Böden in der Arktis untersucht, die erst seit Kurzem eisfrei sind. Die Untersuchungen waren Teil der Doktorarbeit von Orsis Doktoranden Juan Carlos Trejos-Espeleta und wurde in enger Zusammenarbeit mit dem arktischen Biogeochemiker und CNRS-Forscher Dr. James Bradley vom Institut méditerranéen d’océanologie in Frankreich durchgeführt.
Zeitstrahl der Besiedlung
Gegenstand der Analysen war das Gletschervorfeld des Midtre Lovénbreen, eines sich zurückziehenden Talgletschers im Nordwesten von Spitzbergen.
„In der Hocharktis zeigt sich die Gletscherschmelze besonders dramatisch“, sagt Orsi. „Dort dehnen sich eisfreie terrestrische Umgebungen mit einer außerordentlich hohen Geschwindigkeit aus.“
James Bradley, der 2013 zum ersten Mal in dem Gebiet arbeitete, sagt: „Vor einem Jahrzehnt habe ich Eisbohrkerne in den Gletscher gebohrt. Als wir 2021 zurückkehrten, war der Gletscher geschrumpft und anstelle von Eis gab es karge, scheinbar leblose Böden.“ Bei der Analyse dieser Böden im Labor stellten die Forscher jedoch fest, dass sie unglaublich vielfältige Gemeinschaften von Mikroben enthalten.
Die freigelegten Flächen eignen sich ideal dafür, die schrittweisen Veränderungen des Bodens zu erforschen. Je näher am Gletscherrand, desto jünger der Boden, je weiter weg, desto mehr Zeit hatte das Leben, den Untergrund zu besiedeln. Direkt hinter dem Eis befindet sich eine Zone mit nicht oder kaum bewachsenen Gletscherschutt, gefolgt von Moränen mit vereinzelten Moosen und Flechten, dann erst kommen Bereiche mit blühende Pflanzen auf fortgeschrittenen Stadien der Bodenentwicklung.
Die weichenden Gletscherfronten stellten für die Forschenden also ideale natürliche Laboratorien dar, um die verschiedenen Stadien der Bodenentwicklung zu beobachten. Die Ökosysteme gehören zu den ursprünglichsten, empfindlichsten und verletzlichsten auf der Erde und können trotz der extremen Temperatur-, Licht-, Wasser- und Nährstoffverhältnisse schnell von spezialisierten Mikroben besiedelt werden.
Dazu untersuchte das Team die mikrobielle Zusammensetzung der verschiedenen Bereiche mittels DNA-Analyse und parallel dazu den Stofffluss von Kohlenstoff und Stickstoff. Durch Experimente, in denen sie isotopisch markierte Aminosäuren einsetzten, konnten sie die mikrobielle Aufnahme, Assimilation und Verstoffwechselung von organischem Kohlenstoff exakt verfolgen.
„Uns interessierte vor allem, welcher Anteil durch die Mikroorganismen als Biomasse im Boden gebunden wird und wie viel sie in Form von CO2 wieder in die Atmosphäre abgeben“, so Juan Carlos Trejos-Espeleta, Doktorand bei William Orsi.
Pionier-Pilze bringen Kohlenstoff in den Boden
Im besonderen Fokus: Pilze. Diese Organismengruppe ist nämlich im Vergleich zu Bakterien besonders gut darin, viel Kohlenstoff in den Boden zu bringen und dort zu halten. Das Verhältnis von Pilzen zu Bakterien ist ein wichtiger Anzeiger für die Kohlenstoffspeicherung: Mehr Pilze bedeuten mehr Kohlenstoff im Boden, mehr Bakterien führen hingegen dazu, dass der Boden tendenziell mehr CO2 ausstößt.
„In hocharktischen Ökosystemen ist die Vielfalt der Pilze im Vergleich zu den Pflanzen besonders hoch, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Pilzgemeinschaften dort eine Schlüsselrolle als Ökosystemingenieure spielen könnten“, meint Orsi.
Erkenntnisse über die Prozesse der Kohlenstoffassimilation von Pilz- und Bakterienpopulationen und des Kohlenstoffflusses im Ökosystem seien entscheidend für Vorhersagen darüber, wie terrestrische Ökosysteme in der Arktis auf die künftige Erwärmung reagieren werden.
Tatsächlich konnten die Forschenden zeigen, dass Pilze, genauer gesagt bestimmte Basidiomyceten-Hefen, eine entscheidende Rolle bei der frühen Stabilisierung des assimilierten Kohlenstoffs spielen. Sie sind laut der Studie die Pilz-Pioniere auf den jungen postglazialen Böden und tragen entscheidend zur Anreicherung organischen Kohlenstoffs bei.
Das Forschungsteam hat herausgefunden, dass diese spezialisierten Pilze nicht nur in der Lage sind, die rauen arktischen Landschaften vor allen anderen komplexeren Lebewesen zu besiedeln, sondern dass sie auch eine Grundlage für die Entwicklung des Bodens schaffen, indem sie eine Basis aus organischem Kohlenstoff aufbauen, die andere Lebewesen nutzen können. In Böden im mittleren und späten Stadium dominieren dann zunehmend Bakterien die Aminosäure-Assimilation, wodurch die Bildung von Biomasse deutlich abnahm und durch Atmung produziertes CO2 zunahm.
„Unsere Ergebnisse belegen, dass Pilze eine entscheidende Rolle bei der künftigen Kohlenstoffspeicherung im arktischen Boden spielen werden, denn die Gletscher werden weiter schrumpfen und mehr Boden freilegen“, fasst Orsi die Ergebnisse zusammen.