Der Biodiversitätsverlust gilt als globale Krise, denn das Artensterben beeinträchtigt weltweit Ökosystemfunktionen, die auch für Menschen über lebensnotwendig sind. Der Weltbiodiversitätsrat IPBES fordert daher einen raschen transformativen Wandel, der alle Bereiche der Gesellschaft mit einbezieht. Doch bislang fehlen dafür konkrete Konzepte. Biodiversitätsforschern aus der Autorengruppe Faktencheck Artenvielfalt stellen im Journal „People and Nature“ ein Analysetool vor, mit dem Wissenschaftler*innen erstmals gesellschaftliche Veränderungsprozesse in ihrer Wirkung auf die Artenvielfalt bewerten und konkrete Empfehlungen ableiten können.
Ein erheblicher Anteil aller Tiere und Pflanzen – fast ein Drittel – ist vom Aussterben bedroht. Doch trotz zahlreicher internationaler wie nationaler Appelle und Abkommen für mehr Artenschutz setzt sich der Trend fort. Dabei ist längst klar: Um die Balance der Ökosysteme langfristig zu erhalten, muss dieser Trend nicht nur gestoppt, sondern umgekehrt werden. Dafür fordert etwa der Weltbiodiversitätsrat IPBES einen umfassenden Wandel, der alle gesellschaftlichen Aspekte einbezieht.
„Forderungen nach gesellschaftlichen Veränderungen zum Schutz und zur Steigerung von Biodiversität sind sinnvoll und dringend notwendig, bleiben bislang aber sehr abstrakt“, sagt Marion Mehring vom ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung.
Tatsächlich fehle es derzeit noch an konkreten Konzepten und Empfehlungen für einen transformativen Wandel, also für eine Trendwende, die zu einem wirklichen Schutz der Biodiversität führt.
Indirekte Treiber von Biodiversitätsverlust besser verstehen
„Wir wissen noch zu wenig darüber, wie sich gesellschaftliche Veränderungen auf die Biodiversität auswirken. Aber es ist wichtig zu verstehen, welche indirekten Treiber für den Biodiversitätsverlust sich aus übergeordneten gesellschaftlichen Entwicklungen ergeben“, erklärt Mehring. Welche Rolle spielt zum Beispiel der Strukturwandel oder die Entwicklung einer neuen Technologie? Wie beeinflusst der Wertewandel die Entwicklung der Artenvielfalt? „Bislang fehlen uns Instrumente, die in solchen gesellschaftlichen Prozessen die komplexen Wirkungen auf die Artenvielfalt messen. Doch das ist die Voraussetzung, um eine Trendwende zum Schutz der Biodiversität erreichen zu können“, sagt die Biodiversitätsforscherin, die mit einem Team aus Wissenschaftlern dafür nun ein Instrument entwickelt hat.
Im jüngst in People and Nature erschienenen Artikel „Multiple ways to bend the curve of biodiversity loss. An analytical framework to support transformative change“ stellt das Autorenteam einen empirischen Ansatz vor, der es Wissenschaftlern ermöglicht, die komplexen Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, die sogenannten indirekten Treiber, und deren Wirkungen auf die biologische Vielfalt zu bewerten.
Aus Erfolgen lernen: Beispiele für den Schutz der Biodiversität
Die Idee dieses Ansatzes ist es, von erfolgreichen Fällen zu lernen, in denen gesellschaftliche Veränderungsprozesse sich bereits positiv auf die Artenvielfalt ausgewirkt haben. Dafür hat das Autorenteam einen umfassenden Fragenkatalog zur Anwendung in der Biodiversitätsforschung entwickelt. Damit lassen sich sowohl gesellschaftliche Veränderungsprozesse selbst – ihre Wurzeln und ihr Kontext – als auch die Auswirkungen dieser Prozesse auf Natur und Gesellschaft erfassen und bewerten.
Die Anwendung dieses Fragenkatalogs durch die Autoren auf drei Fallstudienregionen in Deutschland zeigt exemplarisch, wie sich relevantes Wissen generieren lässt, um den Prozess eines gesellschaftlichen Wandels so zu lenken, dass die biologische Vielfalt erhalten wird. Ein Fallbeispiel ist der Umbau der Emscher in den 1990er Jahren von einem durch Industrialisierung geprägten Abwasserkanal hin zu einem attraktiven Fluss mit Auen und Erholungsgebieten.
„Obwohl es gar nicht das erklärte Ziel war, hat der Emscher-Umbau zu einer erheblichen Zunahme der Arten geführt. Und der entscheidende Erfolgsfaktor für den positiven Nebeneffekt für die Biodiversität war, dass im Zuge des Strukturwandels der Montanregion Synergien für Natur, Landschaft, Wohnen, Kultur und Tourismus gezielt gesteuert wurden“, erläutert Mehring.
Nicht das eine Konzept: Viele unterschiedliche Ansätze führen zur Trendwende
Der Schutz biologischer Vielfalt kann aber auch das erfolgreiche Ergebnis eines gesellschaftlichen Kompromisses sein. So ist das fränkische Trittsteinkonzept von 2006 aus einer konfliktreichen Auseinandersetzung um Schutz oder Nutzung von Waldflächen hervorgegangen. Das Konzept zeichnet sich durch ein Mosaik aus geschützten und forstlich genutzten Flächen aus, die Schutz und Nutzung des Waldes gleichzeitig zulassen. Damit führt es zu einer Zunahme der Artenvielfalt und bietet gleichzeitig einen gesellschaftlichen Mehrwert für den Tourismus.
Das dritte Fallbeispiel des bayerischen Volksbegehrens zur biologischen Vielfalt von 2019 schließlich zeigt, dass auch eine gezielte Priorisierung des Schutzes der biologischen Vielfalt gesellschaftlich breit getragen werden kann.
Entscheidend ist, dass Gelegenheitsfenster für den Artenschutz, wie in dem Fall durch eine gesellschaftlich initiierte Petition, genutzt werden. „Die Analyse der drei Fallbeispiele mithilfe des Fragebogens hat uns gezeigt, dass der Erhalt der Artenvielfalt überraschenderweise nicht immer das erklärte Ziel eines Veränderungsprozesses sein muss, sondern dass dieser Effekt durch eine biodiversitätssensible Gestaltung von Prozessen auch als Seiteneffekt auftreten kann. Deutlich wurde auch, dass es nicht das eine Konzept für eine Trendwende zum Erhalt der Artenvielfalt gibt, sondern dass es viele unterschiedliche Ansätze dafür braucht“, schlussfolgert Mehring.
Weitere Informationen zum Faktencheck Artenvielfalt unter: https://www.feda.bio/de/was-ist-der-faktencheck-artenvielfalt/