Mehr als die Hälfte der natürlichen Lebensraumtypen in Deutschland weist einen ökologisch ungünstigen Zustand auf, täglich verschwinden weitere wertvolle Habitatflächen. Die Konsequenz: Populationen von Arten schrumpfen, verarmen genetisch oder sterben aus – mit direktem Einfluss auf die Leistungsfähigkeit und Funktionsweise von Ökosystemen. Ein Drittel der Arten sind gefährdet, etwa drei Prozent sind bereits ausgestorben.
Der heute erschienene „Faktencheck Artenvielfalt“ wurde in Zusammenarbeit zahlreicher Universitäten, Forschungseinrichtungen und weiterer Akteure erstellt und zeigt erstmals umfassend, wie es um die Biodiversität in Deutschland tatsächlich steht, identifiziert deren Trends und Treiber, gibt aber auch Empfehlungen, dem Verlust entgegenzuwirken und arbeitet Forschungsbedarfe heraus.
In kaum einem Land wird so viel zur biologischen Vielfalt geforscht wie in Deutschland. Für den Faktencheck Artenvielfalt (FA) haben mehr als 150 Wissenschaftler von 75 Institutionen und Verbänden nun die Erkenntnisse aus über 6000 Publikationen ausgewertet, und in einer eigens dafür entwickelten Datenbank zusammengeführt. Um langfristige Entwicklungen zu erkennen, haben sie einen bisher noch nicht dagewesenen Datensatz von rund 15.000 Trends aus knapp 6200 Zeitreihen erstellt und analysiert.
„Der Faktencheck Artenvielfalt ist weltweit eines der ersten Beispiele, wie große internationale Berichte – wie die globalen und regionalen Assessments des Weltbiodiversitätsrates IPBES – auf einen nationalen Kontext zugeschnitten aussehen können, mit dem Ziel, Handlungsoptionen für die konkrete nationale und subnationale Politik aufzuzeigen und zu entwickeln“, erklärt Prof. Dr. Christian Wirth, Professor an der Universität Leipzig und Mitherausgeber des FA.
Die Ergebnisse sind ernüchternd
Insgesamt sind 60 Prozent der 93 untersuchten Lebensraumtypen in einem unzureichenden oder schlechten Zustand. Am schlechtesten steht es um ehemals artenreiche Äcker und Grünland, Moore, Moorwälder, Sümpfe und Quellen. Der FA stellt nur wenige positive Entwicklungen fest, beispielsweise in Laubwäldern – doch diese werden akut vom Klimawandel bedroht.
10.000 Arten in Deutschland sind bestandsgefährdet
Von den 72.000 bekannten in Deutschland heimischen Tier-, Pflanzen- und Pilzarten wurden bislang erst 40 Prozent auf die Gefährdung der Population hin untersucht. Von diesen Arten ist fast ein Drittel bestandsgefährdet. Die Gefährdung nimmt zu bei Arten des Agrar- und Offenlandes und in anderen, vor allem in artenreichen Gruppen wie Insekten, Weichtieren oder Pflanzen.
„Die Zeitreihen zeigen, dass sich die Trends der Lebensräume und Populationen nun auch in der biologischen Vielfalt von Lebensgemeinschaften niederschlagen. Naturnahe Lebensgemeinschaften beginnen an Arten zu verarmen. Gleichzeitig sehen wir eine beschleunigte Verschiebung hin zu neuartigen Lebensgemeinschaften mit zunehmendem Anteil gebietsfremder Arten“, sagt Dr. Jori Maylin Marx, Wissenschaftlerin an der Universität Leipzig und Mitherausgeberin des FA.
Besonders wenige Daten gibt es über die Bodenbiodiversität und die Artenvielfalt in den stetig wachsenden urbanen Räumen. „Wo die Datengrundlage vorhanden ist, stellen wir ein anderes Problem fest: Es gibt kein einheitliches, arten- und lebensraumübergreifendes System, um biologische Vielfalt zu erfassen. Das erschwert die Verknüpfung von Daten – und damit die wissenschaftliche Auswertung.
Außerdem fehlen Langzeitdokumentationen. Der Großteil der von uns ausgewerteten Zeitreihen war zu kurz, um statistisch signifikante Trends zu ergeben“, erklärt Prof. Dr. Helge Bruelheide, Professor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Mitherausgeber des FA. „Durch die unzureichende Datengrundlage sind auch die genauen Ursachen des Verlusts biologischer Vielfalt nur ungenügend bekannt. Das liegt vor allem daran, dass die von uns Menschen verursachten Einflüsse bislang entweder gar nicht oder nur unvollständig und in den meisten Fällen unabhängig von der Erfassung der biologischen Vielfalt erhoben werden“, ergänzt Josef Settele, Leiter des Departments Naturschutzforschung am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) und Mitherausgeber des FA.
Mit gezielten Maßnahmen den Biodiversitätsverlust stoppen
Klar belegbar ist, dass der Verlust von Lebensräumen und die Intensivierung der Nutzung von Kulturlandschaften den stärksten negativen Effekt auf die biologische Vielfalt haben, auch erste Auswirkungen des Klimawandels werden sichtbar. Die Intensivierung der Landwirtschaft hat negative Effekte in fast allen Lebensräumen, nicht nur im Agrar- und Offenland, und bietet damit den größten Hebel für biodiversitätsschützende Ansätze.
Der FA zeigt auch positive Entwicklungen einiger Artengruppen und Lebensräume, zum Beispiel durch die Verbesserung der Wasserqualität unserer Flüsse und die Förderung natürlicher Strukturelemente in Wäldern und in der Agrarlandschaft.
„Das zeigt, dass wir mit gezielten Maßnahmen den Biodiversitätsverlust stoppen können“, erklärt Prof. Dr. Nina Farwig, Professorin an der Philipps-Universität Marburg und FA-Mitherausgeberin. „Für eine echte Trendwende müssen wir die Natur verstärkt wiederherstellen. Vor allem aber müssen wir lernen, mit der Natur zu wirtschaften – nicht gegen sie. Das kann auch bedeuten, dass wir ökologische Folgekosten in Wirtschaftsberichten bilanzieren. Vor allem müssen neue biodiversitätsbasierte Landnutzungssysteme entwickelt werden. Moderne Technologien können hierbei helfen.“
Rechtliche und förderpolitische Instrumente der Naturschutzpolitik seien unzureichend umgesetzt oder vollzogen, oft durch eine fehlende Abstimmung mit anderen Nutzungsinteressen, kritisieren die Forschenden im FA. Förderungen knüpften oft an die reine Durchführung biodiversitätsfördernder Maßnahmen an, dagegen versprächen erfolgsbasierte finanzielle Anreize einen größeren positiven Einfluss.
Eine größere Verbindlichkeit könne der Biodiversitätsschutz auch dadurch erhalten, wenn er an höherrangige Rechte geknüpft würde, beispielsweise in Form eines Menschenrechts auf gesunde Umwelt oder eines grundgesetzlich gewährleisteten Eigenrechts der Natur. Für das hierzu notwendige weitreichende Umdenken liefert der FA Empfehlungen, denn die Wissenschaftler haben erfolgreiche Projekte analysiert, um die Bedingungen für Transformation zu verstehen. Sie identifizieren eine Vielfalt von Motivationen und Akteur:innen, gelungene Partizipation und auch ökonomischen Nutzen als entscheidende Faktoren für erfolgreiche Ansätze.
Biologische Vielfalt zahlt sich aus
Biologisch vielfältige Ökosysteme sind leistungsfähiger und stabiler. Sie versorgen Menschen mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen, sie halten die Nährstoffkreisläufe aufrecht, schützen das Klima, halten das Wasser in der Landschaft.
„Der Erhalt der Biodiversität sichert unser Wohlergehen, aber auch das Wirtschaften. Schützen wir die biologische Vielfalt, schützen wir also uns selbst“, erklärt Volker Mosbrugger, Sprecher der Forschungsinitiative zum Erhalt der Artenvielfalt (FEdA), in der das Bundesministerium für Bildung und Forschung den Faktencheck Artenvielfalt gefördert hat. „Mit dem Faktencheck Artenvielfalt ist ein höchst beeindruckendes Referenz- und Nachschlagewerk entstanden, das die wissenschaftliche Basis legt, um praxisnahe, wirksame Maßnahmen zum Biodiversitätserhalt in Deutschland zu ergreifen.“
Der wissenschaftliche Bericht „Faktencheck Artenvielfalt. Bestandsaufnahme und Perspektiven für den Erhalt der biologischen Vielfalt in Deutschland“ erscheint am 1. Oktober 2024 im oekom-Verlag und steht online zum kostenlosen Download bereit. Er wird flankiert von einer Zusammenfassung für die gesellschaftliche Entscheidungsfindung.
Text: Jori Maylin Marx / Nadine Leichter