Das Potenzial intelligenter Bioraffinerien ist immens

Arbeit an einem Bioreaktor Manuel Gutjahr ATB

Was bedeutet eine Wirtschaft ohne fossile Rohstoffe wie Öl und Gas? Die logische Antwort ist, dass wir Wertschöpfung nahezu ausschließlich mit nachwachsenden Ressourcen schaffen müssen. Diese sogenannte Bioökonomie stellt uns lokal bis weltweit vor große Herausforderungen. Forschende des Leibniz-Instituts für Agrartechnik und Bioökonomie aus Potsdam veröffentlichten kürzlich ein Konzeptpapier, das gängige Modelle der Bioökonomie zu einem umfassenden Konzept vereint. Sie beschreiben darin, wie eine zirkuläre und nachhaltige Bioökonomie innerhalb der planetaren Grenzen aussehen könnte. Ein wesentlicher Teil dieser Vision sind smarte, integrierte Bioraffinerien.

Biomasse, also gewachsene, biologische Rohstoffe, ist ein großer Schatz. Wir essen, verfüttern, verheizen oder verbauen sie. Was übrig bleibt wird herkömmlicherweise kompostiert, deponiert oder verbrannt. Dabei schlummert in jedem ungenutzten Rest immer noch Potenzial. Ein Weg, um dieses Potenzial zu nutzen, sind intelligente, integrierte Bioraffinerien. Anders als die gängigen Bioraffinerien, in denen beispielsweise Chemiekonzerne aus einem speziellen biologischen Ausgangsstoff eine spezielle Biochemikalie gewinnen, kombinieren sie mehrere Umwandlungsverfahren.

ATB-Forscher konzipieren neuartige Bioraffinerie

Dr. Nader Marzban ist Forscher am Leibniz-Institut für Agrartechnik und Bioökonomie (ATB). Er sagt: „Es gibt viele Umwandlungstechnologien, die aus Biomasse Wertstoffe generieren. Dazu zählen unter anderem mikrobielle Fermentation, wie die anaerobe Vergärung, und Pyrolyse. Bei der anaeroben Vergärung wird zum Beispiel Biogas erzeugt, wobei der verbleibende Gärrest noch wertvolle organische Verbindungen enthält. Anstatt ihn, wie herkömmlich, als Dünger zu verwenden, können wir diesen Gärrest durch hydrothermale Humifizierung in künstliche Huminstoffe umwandeln.“

In den Boden eingebracht stabilisieren sie die bakterielle Vielfalt und verbessern die Bodengesundheit. Ein weiterer vielversprechender Ansatz ist die Verbindung der anaeroben Vergärung mit der Pyrolyse, also der Verkohlung. Hierbei fungiert Biokohle als Katalysator und steigert die Effizienz der Biogaserzeugung. Gleichzeitig wird die Biokohle mit Nährstoffen angereichert. Im Boden kann sie so Nährstoffe lange verfügbar halten und – je nach Prozessbedingungen – Kohlenstoff für mehr als ein Jahrhundert speichern.

Ein weiteres Beispiel ist die Fermentation. Gibt man Biokohle hinzu, werden Fermentationshemmstoffe abgebaut, was den Ethanol- und Milchsäureertrag deutlich erhöht. Außerdem können die bei der Pyrolyse erzeugte Biowärme und Elektrizität für die Fermentation genutzt werden, was die Abhängigkeit von externen Energiequellen verringert. CO₂-Emissionen aus der Pyrolyse können aufgefangen und für die Kultivierung von Algen verwendet werden, welche wiederum als alternative Proteinquelle dienen.“

Das Potenzial intelligenter Bioraffinerien ist immens, aber auch die Anzahl der möglichen Optimierungen. Industrielle Prozesse wie anaerobe Vergärung, Fermentation, Pyrolyse, Karbonisierung und Humifizierung haben jeweils einstellbare Parameter und können auf vielfältige Weise kombiniert werden. Anstatt sich auf eine einzige Biomasseart zu verlassen, arbeiten die Forschenden mit 90 verschiedenen Rohstoffen, die regional und saisonal variieren. Durch die Festlegung von Schlüsselzielen und einstellbaren Parametern für jeden Prozess ergeben sich Millionen potenzieller Szenarien.

Dr. Marzban gibt zu bedenken: „All diese Szenarien experimentell zu untersuchen, wäre extrem kostspielig und zeitintensiv. Dabei ist Zeit ein Luxus, den wir nicht haben. Unsere Wirtschaft ist nach wie vor stark von fossilen Rohstoffen abhängig. Die negativen Auswirkungen sehen wir bereits. Deshalb setzen wir auf KI-gesteuerte Simulationen, um die die effizientesten Ansätze zu identifizieren. Als Prozesswissenschaftler gehen wir dabei Schritt für Schritt vor und optimieren zunächst Teilsysteme, die wir nach und nach in Verbindung setzen, um sie zu einem großen Ganzen zu kombinieren.“

Nachhaltige Bioökonomie ohne Abfall

Weltweites Industriewissen und umfangreiche Forschungsergebnisse – auch aus dem ATB – bieten eine reiche Datengrundlage für die Weiterentwicklung bisheriger Biomasse-Umwandlungsverfahren. Schlüsseltechnologien sind dabei Sensorik, die direkt in den Prozessen misst und hilft ein besseres Verständnis für Produkt-Prozess Interaktionen zu erlangen, sowie Künstliche Intelligenz, digitale Zwillinge und fortschrittliche Modellierungstechniken. Durch die Nutzung von Daten, Verarbeitungskapazitäten und Algorithmen können intelligente, integrierte Bioraffinerien entwickelt werden, die anpassungsfähig und skalierbar sind und Tausende, wenn nicht gar Millionen von Szenarien verarbeiten können.

Prof. Dr. Barbara Sturm, Wissenschaftliche Direktorin des ATB und hauptverantwortliche Autorin des Papers erklärt: „Die smarten, integrierten Bioraffinerien können mithilfe von Netzwerken und Dialogen zwischen verschiedenen, modellierten Systemen entwickelt und anschließend in der Realität validiert werden. Dieser Validierungsprozess ermöglicht die Identifizierung von Lücken und die Aufdeckung verborgener Möglichkeiten, die entweder durch die Wiederverwendung bestehender Technologien und Systeme oder durch die Einführung innovativer Lösungen wie künstlicher Huminstoffe angegangen werden können.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Überblick über das Konzept der intelligenten, integrierten Bioraffinerie. ATB

 Bei diesem systemischen Ansatz sucht jede Bioraffineriekomponente aktiv nach Verbindungen mit anderen und bildet größere, integrierte Netzwerke. Das System würde laufend die nächsten Schritte simulieren, um den besten Weg zu finden, die festgelegten Ziele zu erreichen. Dies wird die Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft in bioökonomischen Modellen verbessern, Arbeitsplätze schaffen und die politischen Entscheidungsträger unterstützen. Unsere Vision ist es, durch diese systemische Integration zu einer widerstandsfähigeren, effizienteren und zukunftssicheren biobasierten Wirtschaft zu gelangen.”

Der integrierte Ansatz könnte es uns ermöglichen, eine tatsächlich nachhaltige Bioökonomie zu schaffen, die Abfall nicht kennt und innerhalb der planetaren Grenzen bleibt. Er erhöht die Rentabilität und Konkurrenzfähigkeit, was angesichts der niedrigeren Kosten von fossilen Produkten dringend nötig ist. Trotzdem sind staatliche Unterstützung und politische Interventionen von entscheidender Bedeutung, um den Übergang zu grünen Technologien zu erleichtern und zu beschleunigen. Langfristig werden intelligente, integrierte Bioraffinerien zweifellos rentabler sein als Systeme, die sich auf nur einen einzigen Prozess konzentrieren. Zudem werden sie notwendige Rohstoffimporte reduzieren und dadurch die Resilienz unserer wirtschaftlichen Systeme erhöhen.

Zeit für die Umsetzung

Mit dem Konzeptpapier ist das ATB-Team gemeinsam mit Partnern aus der Universität Potsdam und der Technischen Universität Berlin den ersten Schritt gegangen. Nun sollen Validierung und Umsetzung folgen. Das ATB beginnt bereits in diesem März mit dem Bau einer Bioraffinerie zu Forschungszwecken im brandenburgischen Groß Kreutz. Diese wird die bestehenden Technika und Pilotanlagen am Standort Potsdam und das Fieldlab für digitale Landwirtschaft in Marquardt ergänzen. Im Rahmen des Leibniz-Innovationshofes für Nachhaltige Bioökonomie (InnoHof®) entsteht so eine Anlage, die Forschung und Praxis nicht nur co-kreativ zusammenbringt, sondern auch die Machbarkeit solcher Konzepte demonstrieren soll.

Des Weiteren befindet sich das ATB im Prozess der Beantragung einer Institutserweiterung, um solche systemischen Ansätze noch konsequenter in seine Forschung zu integrieren. In gemeinsamer Berufung mit der Universität Osnabrück besetzt das ATB gegenwärtig eine Professur für Systemwissenschaft in der Bioökonomie.

Prof. Sturm unterstreicht: „Wir müssen systemische, technische, soziale und ökonomische Innovationen zusammendenken. Nur wenn wir ein System als Ganzes begreifen, sind wir in der Lage, Teilsysteme so zu optimieren, dass sie der Nachhaltigkeit effektiv dienen. Mit unserem Konzept werden wir die interdisziplinäre Bioökonomie-Forschung mit politischen Entscheidungsträgern, Branchenführern und dem Lebensmittel- und Ernährungssektor weiter intensivieren, mit dem Ziel die Resilienz unseres Wirtschaftssystems zu steigern, unser Wirtschaften nachhaltiger zu gestalten und die technologische Souveränität Deutschlands und Europas zu unterstützen.“