

In der Theorie gibt es diverse Möglichkeiten zum Recycling von Textilien, durch die der ökologische Fußabdruck der Modeindustrie deutlich verringert werden könnte. Verbraucher spielen dabei eine entscheidende Rolle, indem sie bewusste Entscheidungen treffen und recyclingfreundliche Praktiken unterstützen. Soweit die Theorie und das Wunschdenken – doch wie sieht die Realität in dieser riesigen Branche aus? Wir haben mit Prof. Dr. Thomas Gries gesprochen, einem renommierten Wissenschaftler der RWTH Aachen University, Direktor des Instituts für Textiltechnik. Prof. Gries ist Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech), der Akademie der Wissenschaften NRW und des Beirats der „Zukunftsinitiative Textil NRW (ZiTex)“. Außerdem ist er als Fachgutachter und Reviewer für Fachzeitschriften tätig und sitzt in Aufsichtsräten sowie Beiräten von Unternehmen und Forschungsinstituten.
Man kann den Eindruck bekommen, dass die Bedeutung der Textilwirtschaft oft unterschätzt wird?
Ja, das ist sicher so. Der Textilbereich stellt das zweitwichtigste Konsumgut dar und bildet die drittgrößte Industrie. Insgesamt handelt es sich um einen sehr wichtigen Teil unseres Lebens, der – wenn es um Fragen der Umwelt und Nachhaltigkeit geht – ein großer Hebel für Veränderungen sein kann.
Bei einer solchen Größenordnung müsste das Thema Recycling doch eine wichtige Rolle spielen? Allerdings bleibt der Eindruck, dass echtes Recycling kaum stattfindet. Was macht die Wiederverwertung so schwierig?
Was das Recycling von Textilien so schwierig macht, kann man schon erahnen, wenn man unsere Forschungslandschaft am Institut für Textiltechnik der RWTH Aachen betrachtet. Unsere Forschung deckt zahlreiche Bereiche ab. Sie reicht von Faserwerkstoffen, Faserverbundwerkstoffen und textilen Herstellungsverfahren über technische Textilien, Medizintextilien und textile Fertigungs- und Prüftechnik bis hin zu textilen Anwendungen sowie Qualitätssicherung und Simulation. Damit nicht genug: 60 Prozent unserer Projekte sind international. All diese Bereiche sind getrennt, und eine wirkliche Kommunikation findet nicht statt. Ohne detaillierte Produktinformationen wird Recycling allerdings schwierig. Das ist ein Zustand, der sich im Laufe der Zeit nicht verbessert hat.
Haben sich die Projekte und Themen im Laufe der Jahre verändert?
Als ich studierte, lag der Anteil an Naturfasern bei etwa 70 % und der an Chemiefasern bei 30 %. Heute besteht die textile Rohstoffbasis zu rund 70 % aus unterschiedlichsten erdölbasierten Fasern. Hinzu kommt – wie bereits erwähnt – die starke Fragmentierung im Textilbereich. Kommunikation und Information sind jedoch für ein sinnvolles Recycling grundlegende Voraussetzungen. Außerdem produziert die Textilwirtschaft deutlich über den Bedarf – nämlich rund 30 bis 50 % mehr als benötigt. Im Online-Handel ist es noch viel schlimmer.
Das klingt nach programmierter Verschwendung. Gibt es denn wenigstens eine angemessene Recyclingquote?
Die gesamte Recyclingquote liegt in allen Produktionssektoren nur zwischen 5 und 6 %. Natürlich gibt es Ausnahmen wie PET-Flaschen oder Zeitungspapier, aber insgesamt ist die Situation miserabel. Der Textilbereich ist hier ebenfalls kein Vorreiter. Auch der Konsument spielt keine positive Rolle: Viele Verbraucher kaufen Kleidung, die sie nur selten tragen. Man könnte Ballkleider oder einen Hochzeitsanzug auch leihen, statt solche Stücke nach einmaliger Nutzung jahrelang im Schrank aufzubewahren. Untersuchungen zeigen, dass viele Kleidungsstücke sehr selten oder gar nicht getragen werden. Damit sind selbstverständlich nicht Alltagskleidungsstücke wie z.B. Socken oder Nachtwäsche gemeint. Diese werden in der Regel so lange genutzt, bis sie wirklich verschlissen sind.
In letzter Zeit findet man immer häufiger Textilien mit der Aufschrift „100 % recycelt“. Ist das tatsächlich so?
Ein 100-prozentiges Recycling ist eine Chimäre – technisch schlicht nicht möglich. Produkte, die mit der Behauptung werben, vollständig recycelt zu sein, täuschen uns. Zwar bestehen diese Produkte aus recyceltem Material, doch stammt dieses aus Materialströmen, in denen insgesamt lediglich die bereits erwähnten 5 bis 6 % Recyclinganteil erreicht werden.
Was sind die Grundvoraussetzungen für ein funktionierendes Textilrecycling?
Um recyceln zu können, muss man wissen, woraus Textilien bestehen. Es muss bekannt sein, wie viel Elastan, Baumwolle oder Polyester in einem Textil tatsächlich verarbeitet wurden. Was heute auf dem Etikett steht, ist jedoch meist nur eine grobe Kategorisierung. Dort findet man beispielsweise Angaben wie „40 % Baumwolle, 30 % Polyester“ – das sind lediglich handelsübliche Richtwerte. Genauso verhält es sich bei vielen Produkten: Eine Tafel Schokolade hat nominell 100 Gramm, darf aber im Rahmen einer Toleranz von bis zu 10 % davon abweichen. Die wirtschaftlichen Anreize für das Textilrecycling sind zudem oft unzureichend. Die Kosten für das Recycling können höher sein als die Herstellung neuer Textilien aus Rohstoffen – insbesondere wenn die Preise für neue Materialien niedrig sind. Hinzu kommt, dass man beim Recycling naturgemäß mit geringeren Tonnagen arbeitet. Somit ist der Prozess insgesamt teurer.