Alpen: Frühere Vegetationsperiode durch Klimawandel

Um sechs Tage hat sich der Beginn des Pflanzenwachstums in den Bergen seit 1998 nach vorne verlagert. (Grafik: Michael Zehnder / SLF)

Pflanzen spriessen immer früher aus der Erde, sobald der Schnee weg ist – im Schnitt sechs Tage früher als noch vor 25 Jahren. Das hat Michael Zehnder, vom Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF Davos,  in einer aktuellen Studie nachgewiesen. Der Grund: Die deutlich gestiegenen Temperaturen. «Im Durchschnitt ist die Umgebungstemperatur nach dem Verschwinden der Schneedecke in Folge des Klimawandels um fast zwei Grad wärmer als noch vor 25 Jahren», erklärt Zehnder.

Diese rasche Erwärmung trieb den Wachstumsbeginn der Pflanzen schneller voran und verkürzte damit die Zeit vom Ende der Schneeschmelze bis die Wiesen wieder grün werden.
Nicht nur für die Pflanzenwelt, sondern auch für Wirtschaft und Gesellschaft hat das Folgen. Denn der bei Ausflüglern beliebte Bergfrühling verschiebt sich dadurch nach vorne. «Auch der Alpbetrieb könnte künftig früher starten», sagt Zehnder.

Darüber hinaus wird sich die Biodiversität in den Alpen verändern. Denn nicht alle Pflanzen beginnen gleich nach der Schneeschmelze zu wachsen. Einige folgen einer inneren Uhr und treiben erst aus, wenn die Tage nach der Schneeschmelze lang genug sind, und andere brauchen vor allem Wärme, erklärt Zehnder.
Der Biologe fand heraus, dass in Lagen nahe der Baumgrenze auf circa 2000 m.ü.M. die Vegetation in Jahren früher Schneeschmelze mehr warme Tage benötigte, bis das Wachstum einsetzte.

Auch in höheren Lagen kommen Alpenpflanzen vor, die sich nach der Länge der Tage richten und das Austreiben verzögern, auch wenn es eigentlich bereits warm genug ist. Die Studie zeigt jedoch, dass Pflanzengemeinschaften in diesen Höhen unabhängig vom Zeitpunkt der Schneeschmelze etwa gleich viele warme Tage brauchen, um mit dem Wachstum zu beginnen. In Zukunft dürfte es daher insbesondere in höheren Berglagen früher grün werden als heute – denn der Schnee schmilzt früher und die Temperaturen steigen. Das wirkt sich auch darauf aus, wie Pflanzengemeinschaften zusammengesetzt sind. Arten, die primär auf warme Tage reagieren, könnten solche verdrängen, die sich strikt an die Tageslänge halten.

«Der Klimawandel gestaltet die Ökosysteme in den Bergen um», sagt Zehnder.

Für seine Arbeit hat er 40 Wetterstationen des Interkantonalen Mess- und Informationssystems IMIS genutzt. Diese haben jeweils einen Ultraschallsensor, der im Winter die Schneehöhe misst. Im Sommer messen sie aber auch – und registrieren so die immer früher wachsenden Pflanzen. «Auf diese Weise erhalten wir Daten, ohne selbst vor Ort sein zu müssen», erläutert Zehnder. Ein Computermodell , durch maschinelles Lernen (ML) mit zahlreichen Daten trainiert, erkennt, ob Schnee unter dem Sensor liegt oder ob bereits Pflanzen wachsen. So erkennt Zehnder, wann im Bergfrühling der Schnee verschwindet und das Pflanzenwachstum einsetzt.

Insgesamt hat Zehnder Daten aus den Jahren 1998 bis 2023 analysiert. Um die Vegetation an den Stationen zu erfassen, musste der Biologe aber zusätzlich selbst zu den Stationen aufbrechen. Zu Fuss, da sie in der Regel mitten im Gebirge, auf einer Höhe zwischen 1700 und 2700 Metern ü.M. liegen. Denn welche Pflanzen unter den Sensoren wachsen, erkennen Forschende nicht aus den Daten der IMIS-Stationen. «Aber das ist wichtig, um zu verstehen, wie verschiedene Pflanzengemeinschaften unterschiedlich auf eine künftig noch frühere Schneeschmelze reagieren und wer die Verlierer und Gewinner sind», sagt Zehnder.