
Jedes Jahr werden europaweit in einem mehrstufigen Verfahren Höchstfangmengen und Fangquoten festgesetzt, dennoch sind viele Fischbestände in europäischen Gewässern überfischt. Eine Analyse, die heute im Fachjournal Science veröffentlicht wurde, zeigt: Die Fangmengen sind nicht nachhaltig, weil Bestandsgrößen systematisch überschätzt werden und die politisch festgesetzten Quoten regelmäßig über den schon zu hohen Empfehlungen liegen. Um zu einem wirklich nachhaltigen Fischereimanagement zu kommen, schlagen die Wissenschaftler die Schaffung einer politisch unabhängigen Institution vor, die bindende ökosystembasierte Fangbeschränkungen festlegt.
Eine nachhaltige Fischerei, der sich die Länder der Europäischen Union rechtlich verpflichtet haben, darf nicht mehr Fänge erlauben, als jeweils Fische nachwachsen können. Dennoch sind etwa 70 Prozent der wirtschaftlich genutzten Fischbestände in den nördlichen EU-Gewässern überfischt oder komplett zusammengebrochen.

Warum verfehlt die EU trotz guter Datenlage und vorhandener politischer Instrumente ihre Ziele für eine nachhaltige Fischerei? Dieser Frage sind Wissenschaftler des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel und der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel jetzt am Beispiel der gut erforschten Meere Nordeuropas nachgegangen, mit einem besonderen Fokus auf der westlichen Ostsee. Ihre Analyse wird heute in Science veröffentlicht.
„Wir haben die Ursachen analysiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass sie auf kurzsichtige nationale Forderungen nach höheren, nicht nachhaltigen Fangmengen zurückzuführen sind, die alle Ebenen der Entscheidungsfindung beeinträchtigen“, sagt Erstautor Dr. Rainer Froese, Fischereiexperte am GEOMAR. „Umweltfaktoren wie die Erwärmung der Meere und der Sauerstoffverlust spielen ebenfalls eine Rolle, aber die Überfischung ist so stark, dass sie allein ausreicht, um Bestände zusammenbrechen zu lassen.“
Die Forschenden schlagen daher einen neuen Ansatz für das EU-Fischereimanagement vor, der im Rahmen der bestehenden Gesetze durchführbar wäre und innerhalb weniger Jahre zu einer rentablen Fischerei aus gesunden Fischbeständen führen könnte: Eine politisch unabhängige Institution, die verbindliche Fangquoten nach bewährten wissenschaftlichen Regeln für ein ökosystembasiertes Fischereimanagement festlegt.
Warum Europas Fischereimanagement neu gedacht werden muss
Die Gemeinsame Fischereipolitik (GFP) der EU beruht auf dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (United Nations Convention on the Law of the Sea, UNCLOS), das gesetzlich vorschreibt, dass Fischpopulationen auf einem Niveau erhalten oder wiederhergestellt werden müssen, das die höchste nachhaltige Fangmenge ermöglicht. In Nordeuropa soll dies durch rechtsverbindliche Gesamtfangmengen (total allowable catch, TAC) sichergestellt werden, die der Internationale Rat für Meeresforschung (International Council for the Exploration of the Sea, ICES) auf wissenschaftlicher Grundlage empfiehlt.

Die Arbeitsgruppen dieser zwischenstaatlichen Organisation setzt sich hauptsächlich aus Wissenschaftlern der nationalen Fischereiinstitutionen zusammen. Auf Basis dieser Gutachten schlägt die EU-Kommission jährliche Quoten vor, die dann mit den Mitgliedstaaten und Interessengruppen beraten und schließlich vom Rat der EU-Fischereiminister beschlossen werden. Der gesamte Prozess zeigt jedoch eine systematische Tendenz zu überhöhten Fangquoten – mit negativen Folgen für die Bestände.
Missmanagement am Beispiel der westlichen Ostsee
Um zu verstehen, wie es dazu kommt, haben die Forschenden beispielhaft die westliche Ostsee ausgewählt, ein relativ einfaches Ökosystem, für das umfangreiche Daten vorliegen und das ausschließlich von EU-Mitgliedstaaten unter EU-Kontrolle befischt wird.
„In der westlichen Ostsee dominieren drei stark kommerziell genutzte Arten: Dorsch, Hering und Scholle“, erklärt Prof. Dr. Thorsten Reusch, Leiter des Forschungsbereichs Marine Ökologie am GEOMAR. „Die langjährige Überfischung von Hering und Dorsch hat in jüngster Zeit zum Zusammenbruch dieser Fischereien geführt. Im Gegensatz dazu weisen die weniger gefragten Plattfische Scholle, Flunder und Kliesche stabile oder sogar steigende Bestandsgrößen auf.“
Im Jahr 2022 wurde insgesamt weniger als ein Zehntel dessen angelandet, was aus gesunden Beständen nachhaltig gefangen werden könnte. Reusch: „Es sind die kleinen Küstenfischer, die am meisten leiden, oft ohne etwas falsch gemacht zu haben, außer vielleicht, sich auf die politische Vertretung durch Fischereiverbände zu verlassen, die Lobbyarbeit für nicht nachhaltige Fangquoten betrieben haben.“
Systematische Überschätzungen und Phantom-Erholungen
Um die Fänge nachhaltig zu bewirtschaften, gibt der Internationale Rat für Meeresforschung (ICES) Empfehlungen ab, wie viel Fisch einer bestimmten Fischart jährlich entnommen werden kann, ohne die langfristige Lebensfähigkeit des Bestands zu gefährden. In diesen Bewertungen wurden die Bestandsgrößen für das kommende Jahr, für das nachhaltige Fangmengen empfohlen werden sollten, jedoch wiederholt zu hoch angesetzt. Diese allzu optimistischen Vorhersagen suggerierten, dass sich die Fischbestände erholen und viel höhere Fangmengen verkraften könnten, während die Bestände in Wirklichkeit stagnierten oder zurückgingen. Rainer Froese: „Wir sprechen hier von phantom recovery, Phantom-Erholungen, die vorhergesagt wurden aber nie eingetreten sind.“
„Überfischungs-Ratsche“
Basierend auf den bereits zu hoch eingeschätzten Bestandsgrößen der ICES-Gutachten hat die EU-Kommission häufig noch höhere Fangquoten angesetzt, die von den Ministern im EU-Rat in der Regel gebilligt oder manchmal sogar noch erhöht wurden. Das Ergebnis: Offiziell durfte deutlich mehr gefangen werden, als der Bestand verkraften konnte – teilweise sogar mehr als es überhaupt ausgewachsene Fische gab.
Wie das System seine eigenen Nachhaltigkeitsziele unterläuft
Die Autoren nennen diesen Mechanismus Overfishing ratchet, „Überfischungs-Ratsche“. Er beschreibt den schrittweisen Prozess, bei dem – wie bei einer Ratsche, die nur in eine Richtung einrastet – von Stufe zu Stufe die empfohlenen und schließlich erlaubten Fangmengen immer größer werden.
Rainer Froese: „Interessanterweise blieben die tatsächlichen Fänge in der Ostsee meist unter den erlaubten Mengen. Das liegt schlicht daran, dass viele Fischer nicht mehr fangen konnten oder wollten: Die Suche nach den letzten Fischen wäre zu teuer geworden und hätte sich nicht mehr gelohnt.“
Unabhängige Institution zur Festlegung von ökosystembasierten Fangquoten
Die Gemeinsame Fischereipolitik der europäischen Länder sah ausdrücklich eine Frist bis 2020 vor, um die Überfischung zu beenden – ein Ziel, das eindeutig verfehlt wurde, wie Thorsten Reusch feststellt. Er betont: „Europa muss als Beispiel vorangehen und seine eigene Fischerei nachhaltig gestalten, wenn es andere Regionen der Welt zur Einführung nachhaltiger Fischereipraktiken ermutigen will.“ Sein Appell: „Die EU muss endlich ihre eigenen Nachhaltigkeitsziele ernst nehmen und die Gemeinsame Fischereipolitik dringend konsequent umsetzen.“
Um den Prozess transparenter zu machen und eine klare Rechenschaftspflicht zu erreichen, schlagen die Forschenden die Schaffung einer neuen, politisch unabhängigen Institution vor, die mit einem klaren Mandat ausgestattet ist und die im Einklang mit den Grundsätzen des ökosystembasierten Fischereimanagements solide, wissenschaftlich fundierte Fanggrenzen für jeden Bestand festlegt. So könne die EU endlich ihre eigenen Gesetze umsetzen und die Überfischung wirksam stoppen.
Rainer Froese: „Um erfolgreich zu sein, müsste eine solche Einrichtung für nachhaltige Fischerei mit dem gleichen Maß an Unabhängigkeit arbeiten wie eine Zentralbank.“ Und er betont: „Die Umsetzung fundierter wissenschaftlicher Empfehlungen könnte in vielen Fällen innerhalb weniger Jahre zu einer hochprofitablen Fischerei aus großen Fischbeständen in gesunden europäischen Meeren führen.“