
Im Format der „Nature Perspectives“ analysieren Wissenschafter um Ulrich Brand vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien, dem Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien sowie von BOKU Wien und WU Wien die strukturellen Grenzen der Handlungsfähigkeit des Staates im Übergang zu Klimaneutralität. Sie argumentieren, dass die bestehende Struktur westlicher Staaten zum aktuellen Rückschritt der Klimapolitik beiträgt. Nötig wären neue staatliche Strukturen, die stärker auf die Reduktion von Energieverbrauch, soziale Gerechtigkeit und demokratische Teilhabe setzen als auf Wirtschaftswachstum. Die Analyse ist aktuell in der renommierten Fachzeitschrift Nature Climate Change erschienen.
Bisher gibt es nur wenige systematische sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Frage, warum Regierungen der OECD-Staaten die selbstgesteckten Ziele zur Bekämpfung des Klimawandels nicht erreichen. Ulrich Brand, Alina Brad und Gabriel Eyselein vom Institut für Politikwissenschaft sowie Etienne Schneider vom Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien analysieren gemeinsam mit Melanie Pichler und Danyal Maneka von der Universität für Bodenkultur, Daniel Hausknost von der Wirtschaftsuniversität Wien sowie Mathias Krams von der Goethe-Universität Frankfurt/Main die strukturellen Grenzen, an die Staaten bei der Bekämpfung des Klimawandels stoßen.
„Wir sehen in der OECD-Welt seit der Pariser Klimakonferenz von 2015 das Aufkommen einer ambitionierten, staatlich getriebenen Dekarbonisierungsstrategie: Es geht nicht mehr nur um technologische Verbesserungen, um die Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Vielmehr streben Regierungen mit politischen Großprojekten wie dem Europäischen Grünen Deal weitreichendere Veränderungen an – durch stärkere Eingriffe in die Produktion und den Konsum und damit in den fossil getriebenen Wachstumsmotor, der auf eine erneuerbare Energiebasis gestellt werden soll“, erklärt Ulrich Brand.
Durch den Umstieg auf erneuerbare Energien und entsprechende Technologien werde eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum einerseits und Ressourcenverbrauch bzw. Treibhausgasemissionen andererseits angestrebt. International sollen „grüne“ Technologien die Wettbewerbsfähigkeit und das Wirtschaftswachstum erhöhen.
Doch diese Strategien stoßen an Grenzen der Kernfunktionen des Staates: Die OECD-Staaten sind von ihren Strukturen her liberal-kapitalistisch ausgerichtet – das bedeutet vereinfacht gesagt, sie sind bei ihren Steuereinnahmen und damit in ihrem Handlungsspielraum abhängig von einer expandierenden Wirtschaft, die nach wie vor weitgehend auf fossilen Rohstoffen basiert. Das stärkt wiederum die Legitimität der Regierungen. Die staatlich getriebene Dekarbonisierung läuft diesen Prinzipien entgegen, weil sie die Wachstumsdynamik fossiler Branchen bremst und stark in den fossil geprägten Alltag der Menschen eingreift. Das führt zu Widerstand in Politik und Gesellschaft.
„Der große klimapolitische Rückschritt, den wir gerade live miterleben, hängt auch mit einem grundlegenden Problem zusammen: Dekarbonisierung erfordert staatliche Eingriffe in Wirtschaft und Alltag, der Staat wird sichtbarer. Das wird oftmals als Einschränkung wahrgenommen, und schwächt die Unterstützung für das Projekt der Dekarbonisierung. Dies gilt vor allem, wenn klimafreundliche Alternativen nicht verfügbar oder leistbar sind. Die klimaskeptische Rechte wird stärker, Ziele und Maßnahmen für Klimaschutz werden verwässert oder sogar abgebaut,“ sagt Daniel Hausknost von der WU Wien und Co-Autor der Untersuchung.
„Bisher fokussieren sozialwissenschaftliche Analysen zur Frage, warum Staaten die selbstgesteckten Ziele zur Bekämpfung der Klimakrise nicht erreichen, hauptsächlich auf fehlenden politischen Willen. Unsere Analyse zeigt, dass neben handfesten Machtinteressen und Lobbying die Reduktion von fossilen Energieträgern und CO2-Emissionen auch an strukturelle Grenzen des Staates stößt“, sagt Co-Autorin Melanie Pichler vom Institut für Soziale Ökologie der Universität für Bodenkultur Wien: „Eine Bewältigung der Klimakrise bedeute also nicht nur eine andere Klimapolitik, sondern auch eine Transformation des Staates selbst.“
Notwendig sind daher „staatliche Politiken, welche neben der Dekarbonisierung ressourcen- und emissionsintensiver Branchen auch deren sukzessiven Rückbau befördern, um die Treibhausgasemissionen einzudämmen. Dazu braucht es jedoch einen so genannten `Transformationsstaat´, der nicht auf stetiges Wirtschaftswachstum und Steuereinnahmen aus den fossilen Sektoren angewiesen ist. Der Sozialstaat müsste klimafreundlich erneuert und demokratische Teilhabe gestärkt werden“, so Alina Brad vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.