Schlüsselrolle der Baumhöhe im Lawinenschutz

Derzeit sind zahlreiche Praktikantinnen, Praktikanten, Studierende und Forschende in der Versuchsaufforstung Stillberg unterwegs, um den Bestand zu vermessen. Quelle: Viktoria Frank / SLF Copyright: Viktoria Frank / SLF

Wald schützt vor Lawinen. Aber nicht jeder Schutzwald wirkt gleich gut. Forschende des WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF, Davos, haben jetzt mit Hilfe von Beobachtungen aus knapp 50 Jahren an der Versuchsaufforstung Stillberg Erkenntnisse darüber gewonnen, wie sich die Lawinenschutzfunktion einer Aufforstung im Laufe der Zeit ändert und ab wann sie Lawinenanrisse wirksam verhindert. «So richtig gut verhindern Bäume Lawinenabgänge erst, wenn sie mindestens doppelt so hoch sind wie die Schneedecke», erklärt Peter Bebi, Leiter der Forschungsgruppe Gebirgsökosysteme. Mit ihrer Arbeit verbessern er und sein Team das wissenschaftliche Fundament für Faustregeln, welche in der Praxis angewendet werden.

Ebenfalls eine wichtige Rolle spielt die Baumart. «Immergrüne Nadelbäume halten mehr Schnee zurück», sagt Bebi. Das ist wichtig, denn je mehr Schnee auf den Baumkronen liegen bleibt, desto niedriger und unregelmässiger bleibt die Schneedecke. Schwachschichten, die Lawinen auslösen, entstehen so kaum. Ein reiner Lärchenwald wirkt daher weniger gut als ein Wald mit Arven oder Fichten.

Das Langzeitprojekt am Stillberg feiert diesen September sein 50-jähriges Jubiläum . Damals ließen Forschende rund 92’000 Setzlinge von Arven, Bergföhren und Lärchen an diesem Steilhang mit einer Neigung von rund 38 Grad oberhalb des Dischmatals bei Davos pflanzen. Es ist wohl weltweit das älteste und bedeutendste Langzeitexperiment oberhalb der Waldgrenze.

In den folgenden Jahren beobachteten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschafter genau, wie sich der Wald entwickelt, vermassen regelmäßig die Bäume, im Winter auch die Schneedecke, und beobachteten insgesamt 214 Lawinen in dem Gebiet. Bis in die 1990er Jahre gingen in der Stillbergfläche häufig Lawinen ab. Dann kam die Wende. Immer mehr Bäume waren mittlerweile mindestens zweimal so hoch wie die Schneedecke. «Danach gab es deutlich weniger Lawinen, fast nur noch in einzelnen Rinnen, in denen die meisten Bäume bereits früh abgestorben sind», sagt Bebi.

Besserer Schutz auf wissenschaftlicher Basis

Verantwortliche für die Themen Forst oder Naturgefahren können auf Basis der Langzeitergebnisse am Stillberg besser planen, wo in Zukunft eine zuverlässige Schutzfunktion zu erwarten ist und wie der Lawinenschutz mittels geeigneter Aufforstungstechniken verbessert werden kann.

«Dass heute im grössten Teil des ehemaligen Anrissgebiets oberhalb der damaligen Waldgrenze eine so gute Schutzfunktion erreicht wird, war zu Beginn kaum absehbar», fasst Bebi zusammen. Anrissgebiet heisst das Gebiet, in dem sich eine Lawine löst. «Nur im oberen Teil einzelner Rinnen, in denen Lawinen junge Bäume beschädigten oder diese aufgrund der langen Schneebedeckung früh starben, hätten einzelne zusätzliche Holzverbauungen noch bessere Resultate gebracht»

Auch der Klimawandel spielt eine Rolle für künftige Projekte. Vor allem Lärchen profitieren in den letzten Jahren von wärmeren Temperaturen und zeigen, dass Lawinenschutzwald künftig auch in größeren Höhen wirksam sein kann. Noch wertvoller wäre, wenn weitere Baumarten folgen. Herrscht jedoch nur eine Baumart vor oder sind die Bäume gleich alt, steigen auch Risiken für den langfristigen Erhalt der Schutzfunktion. Bebi empfiehlt daher, auch in höhergelegenen Bergwäldern die Vielfalt an Baumarten und Waldstrukturen gezielt zu fördern.

Neue Daten zum 50. Jubiläum

Anlässlich des runden Geburtstags der Versuchsfläche sind diesen Sommer Tag für Tag Forschende und Studierende auf der Versuchsfläche unterwegs. Baum für Baum messen sie Werte wie Höhe und Umfang des Stamms und erfassen Hinweise zu Verletzungen, Frostschäden und Pilzbefall. 2015 haben sie das letztmals gemacht. «Seither hat sich die Aufforstung erstaunlich entwickelt – sie hat immer mehr den Charakter eines Waldbestandes», sagt Bebi. Die aktuellen Daten helfen, den jahrzehntelangen Weg von der Pflanzung bis zum vollständig wirksamen Lawinenschutzwald noch besser zu verstehen.