Funktionaler und politischer Naturschutz gefordert

In Mitteleuropa gibt es praktisch keine Natur mehr, die nicht direkt vom Menschen beeinflusst ist.
Prof. Dr.  Heiland @TU Berlin

Wie bleibt der Naturschutz relevant in Zeiten von Klimakrise, Artensterben und wachsender sozialer Ungleichheit? Prof. Dr. Stefan Heiland, Leiter des Fachgebiets Landschaftsplanung und Landschaftsentwicklung an der TU Berlin und Direktor des Instituts für Landschaftsarchitektur und Umweltplanung, stellt unbequeme Fragen und denkt den Naturschutz konsequent weiter. In seiner Forschung geht es längst nicht mehr nur um den Erhalt von Arten oder schönen Landschaftsbildern. Heiland rückt Themen wie Gesundheit, Wasserverfügbarkeit, Ernährungssicherheit und soziale Stabilität ins Zentrum und fordert ein neues Verständnis von Natur: als dynamisches System, das wir gestalten müssen, wenn wir als Gesellschaft widerstandsfähig bleiben wollen. Ein Gespräch über überholte Ideale, notwendige Zumutungen und die Chancen eines an ökologischen Funktionen orientierten, ehrlichen und politischen Naturschutzes.


Prof. Heiland, der Naturschutz wurde lange vom Ideal einer „ursprünglichen Natur“ geprägt. Ist das noch zeitgemäß?

Als Leitbild des Naturschutzes ist der ursprüngliche, unberührte Zustand der Natur aus meiner Sicht problematisch. Es gibt in Mitteleuropa praktisch keine Natur mehr, die nicht direkt vom Menschen beeinflusst ist. Wenn man Klimawandel, Luftschadstoffe und Mikroplastik als indirekte Einflüsse hinzunimmt, gilt das global. Schon zur Entstehungszeit des Naturschutzes im 19. Jahrhundert richtete sich der Blick meist auf Kulturlandschaften, also von Menschen geprägte Lebensräume, auch wenn sie fälschlicherweise als ursprünglich betrachtet wurden. Wir müssen akzeptieren, dass das, was wir als Natur bezeichnen, dynamisch und im Wandel ist. Der Wunsch, „den ursprünglichen Zustand“ zu bewahren, führt hier in die Irre und wäre gerade im Klimawandel ein falscher Ansatz. Das heißt aber nicht, jede anthropogene Veränderung, Verschmutzung oder Zerstörung von „Natur“ – was übrigens ein durchaus missverständlicher und unscharfer Begriff ist – zu akzeptieren, denn hier geht es auch um unsere Lebensgrundlagen. Statt an bestimmten, häufig menschengemachten „natürlichen“ Strukturen sollten wir uns aber stärker an ökologischen Funktionen und Leistungen der Natur für den Menschen orientieren.

Braucht der Naturschutz also ein neues Selbstverständnis?

Zumindest braucht es vor dem Hintergrund ökologischer und gesellschaftlicher Veränderungen eine Akzentverschiebung. Der bisherige Fokus lag stark auf dem Schutz bestimmter, häufig durch den Menschen zu einer bestimmten Zeit unter bestimmten Bedingungen geförderten Arten, Lebensräumen oder Landschaften. Doch in Zeiten des Klimawandels geht es zunehmend darum, Funktionen von Natur und biologischer Vielfalt zu sichern, etwa Klimaregulation, Wasserspeicherung, Bodenschutz. Das ist gar nicht so neu, denn das Bundesnaturschutzgesetz legt in § 1 seit langem fest, dass Natur und Landschaft auch als Grundlage für Leben und Gesundheit des Menschen zu schützen sind. Zudem umfasst es auch den Schutz von Wasser, Boden, Klima und Luft, sowie deren Leistungs- und nachhaltige Nutzungsfähigkeit. Wir müssen Natur eher als „lebendigen Film“ sehen, nicht als Bild, das nur einen bestimmten Augenblick erfasst, den wir erhalten wollen. Wir dürfen aber nicht alles aufgeben, was der Naturschutz bisher erreicht hat, dennoch müssen wir flexibler denken, denn nicht jede, häufig aus traditionellen Landnutzungen entstandene, Grün-oder Landschaftsstruktur wird künftig erhalten werden können.

Wie wirken sich gesellschaftliche Trends wie Klimawandel, Urbanisierung oder soziale Spaltung auf den Naturschutz aus?

Der Klimawandel verändert die Ausgangslage natürlich grundlegend, da er alle anderen ökologischen Parameter beeinflusst und Veränderungen beschleunigt. Soziale Spaltungen und fragmentierte Gesellschaften erschweren es, gemeinsame Werte und Ziele zu definieren und damit gesellschaftlichen Rückhalt für den Naturschutz zu gewinnen. Zugleich entstehen neue Chancen, etwa im urbanen Raum, wenn sich der Naturschutz auch als Problemlöser begreift.

Welche Lösungen kann denn der Naturschutz künftig für Gesellschaft, Gesundheit und Stadtentwicklung anbieten?

Naturschutz kann wichtige Beiträge zur Lebensqualität für die Menschen leisten. So zeigen Studien, wie wichtig Grünflächen für die psychische Gesundheit und das soziale Miteinander sind. Begriffe wie „Schwammstadt“ stehen bereits für ein neues Denken: Wie speichern wir Wasser, wie mildern wir Hitze, wie machen wir Städte widerstandsfähiger gegenüber Klimawandel und Biodiversitätsverlust? Dazu braucht es die Zusammenarbeit von Naturschutz, Stadtplanung, Ingenieurwesen und Landschaftsarchitektur – für Lösungen, die ökologisch nachhaltig, ästhetisch attraktiv, sozial verträglich und möglichst ökonomisch effizient sind.  Naturschützer*innen können hier zu wichtigen Akteur*innen in einem Kontext werden, der weit über den klassischen Artenschutz hinausreicht.

Wie könnte der Naturschutz in 10 bis 20 Jahren idealerweise aussehen?

Ich wünsche mir einen ehrlichen Naturschutz, der sich an realistischen Zielen orientiert und funktionale Leistungen für eine lebenswerte Zukunft sichert. Wie gestalten wir zum Beispiel Städte, die trotz Klimawandel lebenswert bleiben? Welche Funktionen müssen Ökosysteme erfüllen, um künftigen Generationen ein gutes Leben zu ermöglichen? Das schließt durchaus ästhetisches Erleben der Natur und damit Artenschutz ein. Zudem muss sich der Naturschutz stärker als bisher den tieferliegenden Ursachen der Umwelt- oder Naturzerstörung zuwenden – nämlich der Art und Weise unseres Konsums und unserer Produktion, und damit der Frage von Lebens- und Wirtschaftsweisen. Und schließlich sollten wir Naturschutz stärker von der Zukunft her denken, uns also die Frage stellen, welche Ziele aufgrund klimawandelbedingter Veränderungen überhaupt noch realistisch sind und welche heutigen Maßnahmen auch in Zukunft Bestand haben können.

Wie lässt sich in Zeiten der Klimakrise Natur als Chance statt als Verlustobjekt kommunizieren?

Natur genießt grundsätzlich ein positives Image. Sie steht für Schönheit, Erholung und Lebensqualität. Deshalb hat Naturschutz gesellschaftlich durchaus ein insgesamt positives Image. Kritisch wird es, sobald Naturschutz Konsequenzen für den eigenen Alltag hat oder Verhaltensänderungen erfordert. Deshalb muss Naturschutz klar vermitteln, dass er, wie schon erwähnt, nicht nur Selbstzweck ist, sondern wesentlich zu unserer Lebensqualität, zur Erhaltung unserer Lebensgrundlagen und damit zu sozialem Frieden und Gerechtigkeit beitragen kann.

Naturschutz muss laut Stefan Heiland weit über den klassischen Artenschutz hinweg gehen und beantworten können, wie wir Städte widerstandsfähiger gegenüber Klimawandel und Biodiversitätsverlust machen können.

Wichtig ist dabei, dass es gerecht zugeht, und nicht die einen einem unverantwortlichen und verschwenderischen Lebensstil frönen können und andere, die weniger haben, den Gürtel enger schnallen sollen. Daher kann Verantwortung für Natur- und Klimaschutz auch nicht allein auf das Individuum abgewälzt werden. Vielmehr sind strukturelle Rahmenbedingungen nötig, um Wandel zu ermöglichen. Hierfür zu sorgen, ist Aufgabe der Politik. Genauso, dass sie den Menschen reinen Wein über die Konsequenzen von Klimawandel und Biodiversitätsverlust und deren Bekämpfung einschenkt, auch wenn das bedeutet, von manchen Illusionen und materiellen Wohlstandsversprechen Abschied zu nehmen. Die Bereitschaft aller, sich auf Neues einzulassen, wird entscheidend sein.

Welche Narrative brauchen wir, um den gesellschaftlichen Rückhalt für den Naturschutz zu stärken?

Wir brauchen Narrative, die Mut machen, ohne die Dramatik der Lage zu verharmlosen. Dieser Spagat zwischen positiver Vision und ökologischer Notwendigkeit ist schwer, aber notwendig. Dennoch habe ich hierfür nicht die eine Lösung. Beispielsweise dürfte man Veränderungen – wie etwa Einschränkungen des materiellen Konsums, der ja der eigentliche Treiber vieler Probleme ist – nicht nur als etwas Negatives oder als Verlust darstellen, sondern man muss auch die positiven Seiten und Gewinne betonen. Denn wir gewinnen dadurch ja tatsächlich etwas, nämlich ein Weniger an Hitzewellen, Dürren, Hochwassern, Sturmfluten, verödeten Landschaften und daraus resultierenden sozialen Spannungen und ein Mehr an „Natur“ mit all ihren positiven, bereits beschriebenen, Leistungen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich manch negative Veränderungen, die vor allem durch den Klimawandel ausgelöst sind, nicht mehr vermeiden, sondern nur noch minimieren lassen. Aber auch das ist es wert.

Welche Rolle spielen Macht, Interessen und wirtschaftliche Zwänge beim Umbau des Naturschutzes?

Eine zentrale. Naturschutz steht immer im Spannungsfeld von Interessen, die mit Macht und ökonomischen Möglichkeiten und Zwängen einhergehen. Deswegen geht es darum, wie wir mit Machtverhältnissen umgehen, um gesellschaftlichen Rückhalt für Naturschutz zu gewinnen. Ohne politische Mehrheiten und finanzielle Ressourcen wird Naturschutz nicht handlungsfähig sein. Daher, und das höre ich in vielen Gesprächen, wird auch der Einsatz für Demokratie und die Bekämpfung von Rechtspopulismus und -extremismus und von Desinformation immer mehr als Aufgabe des Naturschutzes verstanden. Naturschutz ist immer politisch.

Das Interview führte: Barbara Halstenberg