
In einer großen Verhaltensstudie an über 130 Vogelarten untersuchte ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU), warum verschiedene Arten sich sehr unterschiedlich gegenüber Unbekanntem verhalten. Das ManyBirds-Projekt fand heraus, dass die Ernährungsweise und das Zugverhalten die Scheu vor Neuem (die sogenannte Neophobie) maßgeblich beeinflusst, wie die Forschenden nun in der Fachzeitschrift PLoS Biology berichten. Diese Ergebnisse können für die Planung von Naturschutzprogrammen relevant werden.
Vögel verhalten sich höchst unterschiedlich, wenn ihnen Neues begegnet: Während Meisen und Spatzen sich neugierig um den Gartentisch tummeln – es könnte ja etwas Leckeres herunterfallen –, nehmen andere Vögel Reißaus, sobald ein Mensch den Garten betritt.
Studienleiterin Dr. Rachael Miller von der Anglia Ruskin University und der University of Cambridge in UK: „Neophobie hat Vor- und Nachteile. Neophobe Reaktionen können ein Individuum vor potenziellen Risiken schützen, aber auch die Möglichkeiten verringern, neue Ressourcen wie unbekannte Nahrungsquellen oder Nistplätze zu nutzen.“
Warum manche Vögel neugierig und mutig sind, während andere das Neue meiden, wollten Forschende im ManyBirds-Projekt herausfinden. Das Projekt wurde 2021 von Dr. Rachael Miller und Dr. Megan Lambert (Veterinärmedizinische Universität Wien) gegründet. Insgesamt sind 129 Forscherinnen und Forscher aus 77 Institutionen beteiligt. Dr. Kai R. Caspar vom Institut für Zellbiologie der HHU gehört zum „Leadership Team“ des Projekts, er war in die Konzeption und Organisation eingebunden und an der Datenaufnahme und -analyse beteiligt.
Sowohl in Zoos und Laborhaltungen als auch in freier Wildbahn in 24 Ländern auf sechs Kontinenten beobachtete ManyBirds insgesamt 1.439 einzelne Vögeln aus 136 Arten und 25 taxonomischen Ordnungen. In Deutschland studierten Caspar und Kollegen Vögel unter anderem in Zoos und Tierparks in Detmold, Krefeld und Wuppertal, darunter den Sekretär (Sagittarius serpentarius), den Königspinguin (Aptenodytes patagonicus) und den Karibischen Flamingo (Phoenicopterus ruber).

In einem standardisierten Beobachtungsverfahren wurde jedem Vogel ein vertrautes, begehrtes Futterstück präsentiert, einmal allein und beim anderen Mal zusammen mit einem neuartigen Objekt. Dieses Objekt hatte eine einheitliche Farbe und Textur und war der Größe der jeweiligen Art angepasst.
Caspar: „Wir maßen dann die Zeit, die die Vögel in beiden Szenarien benötigten, um das Futter zu berühren. Den Zeitunterschied zwischen den Situationen interpretierten wir als Maß für die Neophobie. Das Verhalten war reproduzierbar, einzelne Individuen zeigten also konstante Reaktionen auch nach einigen Wochen Pause.“
Die Forschenden stellten fest, dass Ernährungsspezialisierung und Wanderverhalten das Maß der Neophobie maßgeblich beeinflussen. Sie vermuten, dass Arten, die nur wenige ausgesuchte Dinge essen – hierzu zählen Flamingos –, möglicherweise weniger Umweltveränderungen ausgesetzt sind und deshalb Ungewohntes als bedrohlicher wahrnehmen. Dagegen erkunden ernährungsmäßig breit aufgestellte Arten, beispielsweise Stare, schneller verschiedene Nahrungsarten und nutzen sie. Wandernde Arten wie Kraniche wiederum sind erhöhten Risiken ausgesetzt, weil sie mit vielen potenziell gefährlichen neuen Objekten und Umgebungen interagieren müssen. Für sie kann Neophobie evolutionär vorteilhaft sein.
Dr. Miller sieht Anwendungspotenziale in den Forschungsergebnissen: „Neophobie hilft zu beurteilen, wie Arten auf Veränderungen reagieren. Arten, die Unbekanntem gegenüber vorsichtiger sind, haben unter Umständen Schwierigkeiten, sich an Faktoren wie den Klimawandel oder die Urbanisierung anzupassen. Arten mit geringerer Neophobie sind dagegen flexibler oder widerstandsfähiger.“
Dr. Lambert, die Ko-Leiterin von ManyBirds, ergänzt: „Unsere Ergebnisse wirken sich insbesondere für Arten aus, die einen Lebensraumwandel erleben oder aus Zuchtprogrammen ausgewildert werden. Wenn wir deren Verhaltenstendenzen verstehen, können Naturschützer Strategien entwickeln, um die Überlebenschancen gefährdeter Arten zu verbessern.“
Dr. Caspar: „Bisher konzentrierte sich die Kognitionsforschung nur auf sehr wenige Vogelarten, etwa die Haustaube und bestimmte Rabenvögel. ManyBirds ist ein wichtiger Schritt, um bisher ignorierte Vogelgruppen in den wissenschaftlichen Blick zu nehmen und so die Evolution kognitiver Fähigkeiten besser zu verstehen.“