Zweiter Teil der Reihe:
Die Dialektik von Stadt und Land vor dem Hintergrund der Entwertung ländlicher Räume
Die Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft bringt die Sache in einer Prognose auf den Punkt: „Im Jahr 2030 steht die globale Landwirtschaft vor der Herausforderung, Lebensmittel für 8,5 Milliarden Menschen bereitzustellen. Die globale Nachfrage wird 2030 nach Berechnungen der Welternährungsorganisation (FAO) bei 2,7 Milliarden Tonnen Getreide, 131 Millionen Tonnen Schweinefleisch, 132 Millionen Tonnen Geflügelfleisch und 884 Millionen Tonnen Milch und Milchprodukten liegen. Verglichen mit dem Jahr 2015 sind dies Bedarfssteigerungen in Höhe von rund 8 % bei Getreide, 19 % bei Schweinefleisch, 17 % bei Geflügelfleisch und 10 % bei Milch- und Milchprodukten. Im gleichen Zeitraum wird global die pro Kopf verfügbare landwirtschaftliche Nutzfläche von rund 2.200 m² im Jahr 2015 auf rund 2.000 m² im Jahr 2030 zurückgegangen sein. Gründe dafür sind Bevölkerungswachs-tum, Urbanisierung, Wüstenbildung, Bodendegradation und Versalzung.“[1]
All dies macht sehr deutlich, dass die Probleme des ländlichen Raumes unser aller Probleme sind und auch entsprechend angegangen werden müssen. Dabei kann es nicht nur darum gehen, die beschriebenen Trends in Sachen Landflucht und Flächenwirtschaft zu stoppen, sondern es muss darum gehen, das Ausbluten der ländlichen Räume aufzuhalten. Genau hier setzt der Vordenker der neuen Ländlichkeit, Wolf Schmidt von der Mecklenburger ANStiftung, an und plädiert für eine kreative Neunutzung der ländlichen Räume. Mit Recht verweist er auf die enormen Potentiale für Künstler, Handwerker und für die digitalen Freigeister.[2] In seinem Blog schreibt Schmidt: „Die Bedeutung von künstlerischer und kultureller Arbeit auf Gesellschaft und Wirtschaft und damit auf Attraktivität und Entwicklung von strukturschwachen, ländlichen Regionen wird zu wenig anerkannt und wertgeschätzt.
Auf kommunaler und Landesebene fehlt es diesen Themen wie kulturelle Bildung, Kunst- und Kreativwirtschaft oder Engagement in Kulturprojekten an einer starken Lobby und damit häufig auch an ausreichender Finanzierung.“[3] Er legt aber auch seinen Finger in die Wunde der noch immer sehr schwachen politischen Aufmerksamkeit und verweist auf einen oftmals viel zu traditionalistischen Denkansatz in Sachen ländliche Entwicklung.
Und genau hier kommen unsere Initiativen zusammen: Für die auf dem Lande lebenden Menschen muss eine neue modernere Infrastruktur geschaffen werden. Es gilt Menschen aus den Städten für das moderne Leben auf dem Land zu motivieren und Intelligenz und technische Ressourcen auf die Dörfer zu bringen, um letztlich Menschen dort zu haben, die wieder Verantwortung für das Land, für den Boden übernehmen. Die ländlichen Räume zeichnen sich eben dadurch aus, dass Land- oder Forstwirtschaft grundlegend ist. Dies bedeutet nicht, dass alle zukünftigen ländlichen Neubürger auch Landwirt sein müssen, aber für die Triangel Boden-Eigentum-Verantwortung muss eine Lösung gefunden werden, die die traditionelle Landwirtschaft unterstützen kann und gleichzeitig Landgrabbing verhindert. An der Frage des Eigentums kommen wir nicht vorbei. Im Grundgesetz lauert dessen Sozialverpflichtung ebenso wie die Aufsichtspflicht des Staates. Modelle dafür lassen sich in Gegenwart und Geschichte finden: Genossenschaften, Allmenden oder die Osnabrücker Laischaft.[4]
Die Diskussionen zu diesen Themen in den Hochschulen im niederländischen Wageningen, in Hamburg, in Osnabrück und in den Fachministerien in Hannover und Berlin haben 2016 zur Gründung der „Neues-Dorf GmbH“ geführt. Hierbei handelt es sich um ein bio-soziales Unternehmen, das auf marktwirtschaftlicher Basis operieren soll. Im Zentrum des Konzeptes steht eine neue Siedlungsform für Menschen und eine Modernisierungsstrategie für ländliche Gemeinden. Wir arbeiten an der Zusammenführung von Einzellösungen im Bereich der Bestandsbewahrung oder Wiederherstellung von generationsübergreifenden und umweltgerechten Siedlungsformen im ländlichen Raum. Im Zuge dieser Arbeit kamen Projekte aus der Vergangenheit etwa im Bereich der ökologischen Wasserwirtschaft, der Wiederherstellung von landwirtschaftlichen und gartenbaulichen Flächen zusammen mit neuen ökonomischen Konzepten.
In Niedersachsen arbeiten wir seit einiger Zeit mit einer Gemeinde an Möglichkeiten, Strukturen, die für die Gemeinde als soziale und kulturelle Einheit prägend sind, zu stärken oder zu revitalisieren. Dabei geht es beispielsweise um den Erhalt und die Wiedernutzung einer Landgaststätte und die weitere Stärkung der touristischen Infrastruktur. Hierbei sollen die im Projekt revitalisierten Bewirtungs- und Übernachtungsmöglichkeiten mit den touristischen Angeboten verbunden werden.
Darüber hinaus ist eine Verbindung im Bereich der Pflege vorgesehen. Im Projekt sind Wohnungen für ältere Mitbürger vorgesehen, die von Pflegeträgern bewirtschaftet werden sollen. Diese Einrichtung soll, besonders im Bereich der Verpflegung, mit weiteren Pflegeeinrichtung im Ort verbunden werden. Hierzu möchten wir die gastronomische Ausstattung des zum Projekt gehörenden Landgasthauses nutzen. In Brandenburg arbeiten wir zurzeit an der Kombination eines Forschungs- und Ausbildungszentrums mit dem Wohn- und Siedlungskonzept „Neues Dorf“. Das geplante Forschungs- und Ausbildungszentrum wird entsprechend Agrarwissenschaftler, Spezialisten der Entwicklungszusammenarbeit, Landwirte und Planer ausbilden. Der Forschungsbereich wird sich sowohl mit der Resilienz und Effizienz von Nutzpflanzen als auch auf die Verbesserung des Ökosystems Boden beschäftigen. Mit der Forschung und den zu entwickelnden Produkten werden längerfristig und nachhaltige Produktqualitäten bei deutlich geringeren Einsatz weniger Dünger und Pestiziden erzielt. Die Probleme des ländlichen Raumes sind vielfältig. Da sind die vor allem alten Menschen, die noch geblieben sind, denen es aber an allem Lebensnotwendigem bald fehlen wird und zum Teil schon fehlt: Lebensqualität. Und die besteht nun mal nicht darin, mit der Hilfe modernster Kommunikationstechnologie und Sicherungssysteme (Sturzmelder zum Beispiel), so hilfreich sie sind, gerade mal das reine Überleben zu garantieren. Es geht also um Lebensqualität in einem durchaus emphatischen Sinne: Es geht um ein Miteinander wie Wolf Schmidt es skizziert. [5]
Die Refeudalisierung der Landwirtschaft zu stoppen, ist eine politische Aufgabe. Anders wird es nicht gelingen, junge Leute zu bewegen, in eine bäuerliche und ökologische Landwirtschaft zu investieren. Dazu sind die Hektarpreise in den vergangenen Jahren einfach zu hoch geworden. Nun leben wir in einer Gesellschaft, in der Aufmerksamkeit eine knappe Ressource ist. Man kann es auch anders formulieren. Der Soziologe Andreas Reckwitz hat in seinem jüngst erschienen Buch darauf hingewiesen, dass die Städte einen Prozess der Kulturalisierung erfahren haben:“ von der funktionalen Nutzungssphäre in die kulturelle Sphäre der emotional grundierten Wertzuschreibungen“. [6] Bezogen auf Städte spricht Reckwitz von der „Praxis der Singularisierung des urbanen Raumes“, in der dieser urbane Raum zu einem „emotional affizierenden Ort“ wird.
Das muss mutatis mutandis auch das Dorf werden: ein Ort, an dem man leben möchte, weil er etwas Besonderes ist. Und das ganz ohne romantische Verklärung des Dorflebens aus der Perspektive des Städters.
[1] https://www.agrarheute.com/wochenblatt/feld–stall/betriebsfuehrung/zehn–thesen–weiterentwicklunglandwirtschaft–2030–530931
[2] Wolf Schmidt: Luxus Landleben. Neue Ländlichkeit am Beispiel Mecklenburgs, Mecklenburger Anstiftung, Wismar, 179 Seiten, ISBN 978-3-00-056353-9.
[3] https://www.landblog–mv.de/kultur–und–neue–laendlichkeit–schlussfolgerungen/
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Laischaft_Osnabr%C3%BCck
[5] Ebenda: Luxus Landleben: Neue Ländlichkeit am Beispiel Mecklenburgs
[6] Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne, Suhrkamp Verlag