Die Reanimation des Dorfes

Der ländliche Raum ist im Stress. Die Menschen ziehen weg. Die Infrastruktur bricht zusammen. Das ist kein Horrorszenario, sondern vielfach Realität. Es gibt aber auch Gegenbewegungen und Perspektiven. Dr. Wolf Schmidt ist eine Art Vordenker einer „Neuen Ländlichkeit“. Die Linde sprach mit ihm auf einer Fachtagung des  Bundesnetzwerks  Bürgerschaftlichen  Engagements (BBE)

 

Die Linde: Herr Schmidt, Sie sprechen von einer „Neuen Ländlichkeit“. Also gibt es auch eine „Alte Ländlichkeit“. Wodurch unterscheiden die sich?

Wolf Schmidt: In Mecklenburg-Vorpommern sind von den 1,6 Millionen Einwohnern 16.000 in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei beschäftigt.  Eigentlich sprechen wir nur über ein Prozent der Menschen in diesem Bundesland. Man könnte meinen, dies sei eine zu vernachlässigende Größenordnung. Wenn wir dies weiterdenken, könnten wir unsere Dörfer komplett dicht machen.  In den Dörfern hat aber ein Transformationsprozess stattgefunden, den wir nicht sehen, wenn wir dahinfahren. Der optische Eindruck sind Felder und Wiesen und Sie denken, hier ist Landwirtschaft. Von der Landschaft her trifft das auch zu. Aber die Gesellschaft hier draußen, die hat mit Landwirtschaft nichts mehr am Hut.

Die Linde: ein Dorf ohne Landwirtschaft?

Wolf Schmidt: In den Dörfern leben Menschen, die, von der Landwirtschaft kommend, sich neu erfunden haben oder die langzeitarbeitslos sind oder in Rente gegangen. Sie haben noch eine enge mentale Beziehung zum Land haben, zu Landarbeit, zum Garten, zu Tieren. Und dann gibt es eine ganze Menge Zuwanderer, die zum Teil aus ganz Deutschland kommen. Wenn Sie in ein x-beliebiges Dorf in Mecklenburg-Vorpommern gehen, werden Sie Leute finden, die aus ganz anderen Landstrichen zugezogen sind.

Die Linde: Das Dorf, das Sie beschreiben, ist ein Dorf, das losgelöst von Produktions- und Besitzverhältnissen funktioniert.

Wolf Schmidt: Ich habe eigentlich eine positive Vision. Gerade in dieser Region hier in Ostdeutschland, wo wir nicht auf eine tradierte Hegemonie von Bauern treffen, die seit 300 Jahren das Sagen haben, hier können die Dörfer einfacher einen Neubeginn erfahren.

Die Linde: Was aber bleibt, ist doch, dass dieses neu erfundene Dorf eine Insel in einer agrargenutzten Fläche bleibt.

Wolf Schmidt: Das kann zu einem Problem werden. Wir haben hier vor allem im Osten diese großagrarischen Strukturen mit Einheiten von bis zu 5000 Hektar, als Einheiten, die weit größer sind als zu DDR-Zeiten. Zum Teil sind die in der Hand von Agrarunternehmern, die am Ort sitzen. Ja und hier werden die Konflikte zunehmen. Wir sehen das am Beispiel der Windenergie. Die Windenergie ist ein Faktor, mit dem sie die landwirtschaftliche Rendite enorm hebeln können. Energiewende hin und her: Da gibt es auf der einen Seite den Diskurs, der aus der Ökologie kommt, aber es gibt auch den Diskurs, der aus dem Profitdenken kommt. Und dann sind es eben australische und spanische Investoren, die bei uns ihre Windparks errichten. Und das hat schon heftige Konflikte hervorgerufen.

Die Linde: Warum ziehen die Menschen heute aufs Land?

Wolf Schmidt: Sicher sind die Motive ganz unterschiedlich. Was ich an die erste Stelle setzen würde: Man kann nicht aufs Dorf ziehen und fragen, wo ist hier eigentlich die Arbeitsvermittlung? Ich brauche einen Job. Wenn ich hier aufs Dorf ziehe, muss ich meine Erwerbsquellen mit bringen, zum Beispiel meine Rente. Es sind ganz viele Menschen auf dem Dorf, die hier ihre dritte Lebensphase  verbringen wollen und noch einmal völlig neu anfangen können mit relativ wenigen Investitionen. Es sind Menschen, die geerbt haben und sich über Einkommen keine Gedanken machen müssen und dann sind es ganz viele Leute, die zu den Laptop-Nomaden gehören, die also nicht an ihren Ort gebunden sind, also Freiberufler. Es sind Menschen, die den kreativen Berufen angehören, also IT-Leute, Architekten und, was wir in diesem Konzept der Ländlichkeit sehr bevorzugt machen, es sind Künstler dabei. Diese Künstler sind sozusagen die Hefe in dieser dörflichen Gesellschaft. Nicht in jedem Dorf leben Künstler, aber wir merken, wir wechseln die Strömung. Früher war es völlig klar, der Künstler  geht in die Stadt, weil dort das Anregungspotential, die Freiheit und der Kunde waren. Heute gibt es immer noch den Trend zur Urbanisierung. Es gibt immer noch viele Menschen, die in die Stadt wollen. Das ist wichtig als eine Lebenserfahrung. Aber es gibt ganz viele Menschen, gerade auch gebildete und kulturelle engagierte, die sagen,  ich bin von der Stadt jetzt satt und such etwas völlig anderes.

Die Linde: Was zeichnet denn die „Neue Ländlichkeit“ aus? Was kann ich auf dem Dorf erwarten?

Wolf Schmidt: Da ist Natur, da ist Leben im Einklang mit der Natur. Man kann sich aus dem eigenen Garten ernähren. Das zweite Grund ist die digitale Revolution, die es ermöglicht, den zivilisatorischen Unterschied zur Stadt auszugleichen, den wir über 1000 Jahre gehabt haben. Der dritte Grund ist die Kultur, die Kulturnähe, die wir inzwischen auf dem Dorf haben. Und es gibt natürlich einen eigenen Kulturentwurf, zu dem auch die Muße gehört. Wir reden hier über Lebenskultur und nicht über den städtischen Kulturbetrieb, geht es nicht nur darum, welche Aufführungen sehe ich und bei Vernissagen das Sektglas richtig.

Die Linde: Keine Post, keine Bank, keine Lebensmittelläden, keine Kneipe – das Dorf redet nicht mehr miteinander, könnte man sagen. Wie ist das in Ihrem Konzept der „Neuen Ländlichkeit“?

Die Chance der Digitalisierung besteht ja darin, dass wir unsere sozialen und kommunikativen Beziehungen nicht nur mehr mit den Menschen teilen müssen, denen wir räumlich begegnen, sondern wir können uns ein Stückchen davon abkoppeln  und ich sehe, dass es  auf dem Dorf die kleinen Milieus, die kommunikativen Zirkel gibt, die sich verstehen. Man muss nicht mehr mit allen, auch wenn es komisch klingt, gut Freund sein. Aber das was mich bewegt, kulturell, gesellschaftlich, die Fragen, die mich bewegen, das können andere sein als die, die die Mehrheit des Dorfes bewegen. Ich kann meine Bezugsgruppe im Dorf suchen, aber durch die Digitalisierung auch national oder international suchen. Wir haben ihre die Chance, natürlich pflegen wir unsere Beziehungen nach Hamburg oder Berlin und wir kriegen das komplette Anregungspotential mit. Mir stehen alle Wissensbestände der Welt zur Verfügung, wenn ich Breitband habe, das ist das Entscheidende. Und das hebt diesen zivilisatorischen Rückstand auf

Teil 2 des Interviews erscheint in Kürze

 

Dr. Wolf Schmidt ist seit 2011 Sprecher des Landesnetzes der Stiftungen in Mecklenburg-Vorpommern. 2008 gründete er die Stiftungspraxis PhiPolisConsult. Zuvor arbeitete er unter anderem für die Körberstiftung in Hamburg