Seen und Flüsse bedecken nur etwa ein Prozent der Erdoberfläche, beherbergen aber ein Drittel aller Wirbeltierarten weltweit. Doch das Leben in den Binnengewässern ist stark bedroht. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) und internationale Kolleginnen und Kollegen haben nun erstmals die globale Bestandsentwicklung der größten Wirbeltierarten in Binnengewässern quantifiziert: Von 1970 bis 2012 sind die weltweiten Bestände der Süßwasser-Megafauna um 88 Prozent zurückgegangen – der Verlust ist damit doppelt so hoch wie bei Wirbeltieren an Land oder im Meer. Besonders betroffen sind große Fischarten.
Zur Süßwasser-Megafauna zählen alle Süßwassertierarten, die 30 Kilogramm oder mehr wiegen, wie zum Beispiel Flussdelfinarten, Bieber, Krokodile, Riesenschildkröten und Störe. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler trugen vorhandene Bestandsdaten von 126 Süßwasser-Megafauna-Arten weltweit sowie historische und aktuelle geographische Verbreitungsdaten von 44 Arten in Europa und den USA zusammen.
„Die Ergebnisse sind erschreckend und bestätigen die Befürchtungen von Expertinnen und Experten, die sich mit der Erforschung und dem Schutz der Süßwasserfauna beschäftigen“, stellt Sonja Jähnig fest, Leiterin der Studie und Expertin für den Einfluss des globalen Wandels auf Fließgewässerökosysteme am IGB.
Im untersuchten Zeitraum sind die Bestände großer Süßwassertierarten um 88 Prozent zurückgegangen, vor allem in den Regionen Orientalis (um 99 Prozent) und Paläarktis (um 97 Prozent) – erstere umfasst Süd- und Südostasien sowie das südliche China, letztere Europa, Nordafrika und den größten Teil Asiens. Große Fischarten wie Störe, Lachsfische und Riesenwelse sind besonders betroffen: sie führen mit 94 Prozent die traurige Spitze an, vor Reptilien mit 72 Prozent Rückgang.
Zwei Hauptrisiken: Übernutzung und Verlust freifließender Flüsse
Die Übernutzung der Bestände für den Fleisch- und Kaviarkonsum und die Verwendung von Stör- oder Reptilienhaut für Luxusartikel und Medizinprodukte ist der Hauptgrund für die Gefährdung. Gefolgt von der Zerstörung des Lebensraumes: „Der Rückgang von großen Fischarten wie dem Stör liegt auch an der zunehmenden Verbauung von Fließgewässern, durch die der Zugang zu Laich- und Futtergründen versperrt wird.
Trotzdem sind weltweit weitere 3700 große Staudammprojekte in Planung beziehungsweise im Bau, die diese Situation noch verschärfen werden. Mehr als 800 dieser geplanten Staudämme befinden sich in genau den Gebieten mit der größten Artenvielfalt an Süßwasser-Megafauna, darunter die Amazonas-, Kongo-, Mekong und Ganges-Flusseinzugsgebiete“, so Fengzhi He, Erstautor der Studie und Experte für Biodiversitätsmuster und den Schutz von Süßwasser-Megafauna am IGB.
Erfolgreicher Schutz: Stör, Biber und der Irawadidelfin
Doch es gibt auch erfolgreiche Schutzbemühungen: Dank gezielter Schutzmaßnahmen sind die Bestände von 13 Süßwasser-Megafauna-Arten in den USA stabil oder wachsen sogar. Das gilt beispielsweise für den Grünen Stör (Acipenser medirostris) und den Amerikanischen Biber (Castor canadensis). In Asien ist die Population des Irawadidelfins (Orcaella brevirostris) zum ersten Mal in zwanzig Jahren gewachsen. In Europa scheinen effiziente und großangelegte Schutzstrategien schwieriger umsetzbar, vielleicht aufgrund politischer Grenzen und länderspezifischer Unterschiede im Umweltbewusstsein. Trotzdem hat sich beispielsweise der Europäische Biber (Castor fiber) mittlerweile wieder in vielen Regionen angesiedelt, in denen er lange als ausgerottet galt. In Deutschland engagiert sich das IGB mit internationalen Partnern dafür, die beiden einst heimischen Störarten Europäischer Stör (Acipenser sturio) und Atlantischer Stör (Acipenser oxyrinchus) wieder in europäischen Gewässern anzusiedeln.
Verbesserungspotenzial: Monitoring und Schutz aquatischer Biodiversität
Ungeachtet der starken Bedrohung sind die derzeitigen Schutzmaßnahmen für viele Süßwassertierarten unzureichend. „Laut der Roten Liste der Weltnaturschutzunion IUCN gilt über die Hälfte aller bewerteten Megafauna-Arten im Süßwasser als vom Aussterben bedroht. Dennoch erhalten diese Arten weniger Aufmerksamkeit von Forschung und Naturschutz als die Megafauna in terrestrischen oder marinen Ökosystemen“, mahnt Jähnig. Die nun aufgezeigte globale Bestandsentwicklung der Süßwasser-Megafauna unterstreicht die Dringlichkeit von Schutzmaßnahmen für die biologische Vielfalt in Binnengewässern. Es ist wichtig das Monitoring der Bestände und die Verbreitung von Süßwasserarten in Regionen wie Südostasien, Afrika und Südamerika zu verbessern. Denn natürlich geben Veränderungen der Bestandsgrößen und der geografischen Verteilung viel früher Auskunft über den Zustand von Ökosystemen und ihren Lebewesen als das Aussterben von Arten