Einkommensschwache und Transferabhängige leben in Halle an der Saale zunehmend konzentriert in bestimmten Wohnvierteln. Das ist das klare Ergebnis einer Serie von Studien, die das Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) von 2012 bis 2019 in der sachsen-anhaltinischen Großstadt durchgeführt hat. Im Auftrag der Stadtverwaltung wurden dabei jeweils für die Jahre 2011, 2014 und 2017 kommunale statistische Daten ausgewertet. Damit liegt nun eine detaillierte Analyse vor, die einen allgemeinen Trend zu mehr Segregation in Ostdeutschland bestätigt. Der Abschlussbericht wurde jetzt veröffentlicht.
Mehr Polarisierung in Ostdeutschland
Bereits im Mai 2018 zeigte eine Studie des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), dass sich in Sachen Polarisierung und Segregation das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland umgedreht hat: Wäh-rend im Jahr 2000 die Zersplitterung der Städte in arme und reiche, sowie in nach ethnischer Herkunft getrennte Wohnviertel in Westdeutschland deutlich ausgeprägter war als in Ostdeutschland, ist die sozialräumliche Segregation im Osten heute stärker ausgeprägt als im Westen.
Quartiere in Halle rücken auseinander
Mit seinen Untersuchungen in Halle hat das IRS nun Befunde vorgelegt, die diesen Trend zum einen bestätigen, und zum anderen detailliertere Einblicke in eine konkrete Stadt bieten. Ein zentrales Ergebnis dieser Analyse ist, dass die Sozialstruktur in den unterschiedlichen Teilen der Stadt immer weiter auseinanderrückt. Dabei verschärfen sich Problemlagen vor allem in den Gebieten, die bereits hohe Konzentrationen von sozial schwachen Bewohner/-innen aufweisen. Dies betrifft vor allem die Plattenbauquartiere Neustadt, Silberhöhe und Heide-Nord, wo beispielsweise beim Anteil der von Armut betroffenen Kinder Spitzenwerte von 60 bis 70 % erreicht werden.
Gleichzeitig sinken die Anteile von Transferempfängern in locker bebauten Gebieten wie Kröllwitz, Dautzsch oder Heide-Süd, aber auch in den gentrifizierten Innenstadtgebieten Paulusviertel und Burg Giebichenstein. Kinderarmut ist in diesen Gebieten ebenfalls äußerst selten. Während die sozioökonomische Entwicklung in Halle insgesamt leicht positiv ist driften also die einzelnen Stadtteile auseinander.
Gentrifizierung und Zuweisungspraxis Geflüchteter
Dr. Matthias Bernt, der die Studie verantwortet, erklärt die Situation mit einer Kombination verschiedener Einflussgrößen: Attraktive Innenstadtquartiere werden zunehmend gentrifiziert. Hier, wie auch in suburbanen Einfamilienhaussiedlungen konzentrieren sich Wohlhabende. Einkommensschwächere Haushalte werden verdrängt. Zugleich haben Plattenbauquartiere eine soziale Abwertung erfahren. Hier wurden große Wohnungsbestände an Finanzinvestoren verkauft, die ihre Vermietungsstrategie auf einkommensschwache Haushalte ausrichten. Unterstützt wird das durch die Regelungen zu den „Kosten der Unterkunft“ für die Empfänger von Transferhaushalten. Diese sind an den durchschnittlichen Mieten der Stadt bemessen und spiegeln damit kaum noch die starke Spreizung der Mietpreise zwischen unterschiedlichen Gebieten Halles wieder.
Durchmischte Stadt auf mittlere Sicht nicht zu erreichen
In den letzten Jahren wurde diese Entwicklung durch den Zuzug von Ge-flüchteten sowie die Unterbringungs- und Zuweisungspraxis der Behörden intensiviert: Vor allem in den Armutsgebieten der Stadt sind die Anteile von Einwohnern mit ausländischer Staatsbürgerschaft beträchtlich gestiegen. Im Plattenbaustadtteil Südliche Neustadt beispielsweise von 10,1 % (2005) auf 28,3 % (2017) der Einwohner. Da die Mehrzahl der Geflüchteten arbeitslos ist, führt dies zu einer weiteren Verarmung. Gleichzeitig übernehmen diese Viertel die Funktion von „Ankunftsquartieren“. „Sie stellen Räume für die Integration von neuen Stadtbewohnern zur Verfügung, die andere Viertel der Stadt gar nicht mehr bieten können.“, so Bernt. Er sieht großen Handlungsdruck. Er betont jedoch:
„Das Ideal der sozial durchmischten Stadt ist in Halle auf mittlere Sicht nicht zu erreichen, das ist unrealistisch. Jetzt geht es vielmehr darum, die besonderen Bedarfe in den stark von sozialen Problemlagen betroffenen Quartieren anzuerkennen und sie mit mehr Ressourcen auszustatten.“
Wie genau diese Herausforderung bewältigt werden kann, untersucht das neu angelaufene, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierte Projekt „Vom Stadtumbauschwerpunkt zum Einwandererquartier? Neue Perspektiven für periphere Großwohnsiedlungen (StadtumMig)“. Darin kooperiert das IRS mit dem Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung, dem Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung, der Brandenburgischen Beratungsgesellschaft für Stadterneuerung und Modernisierung mbH, der Stadt Schwerin, der Stadt Halle (Saale) und der Stadt Cottbus. Das Projekt wird von Matthias Bernt geleitet.