Energiewende zur klimaneutralen Industrie

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Weil Deutschland bisher keine dezidierte Klima- und Innovationspolitik für die Grundstoffindustrie verfolgt, droht ein massiver Investitionsrückgang in diesem Wirtschaftszweig mit seinen 550.000 Beschäftigten. Denn Investitionen in die alten, CO2-intensiven Technologien sind angesichts des Ziels der Klimaneutralität 2050 nicht erfolgversprechend. Auf der anderen Seite fehlt auch für die neuen, CO2-neutralen Technologien der Business Case. Agora Energiewende und das Wuppertal Institut schlagen deshalb für die Stahl-, Chemie- und Zementindustrie ein Sofortprogramm vor.

Stahl-, Chemie und Zementhersteller müssen Investitionsentscheidungen schon heute so treffen, dass sie klimasicher sind. Alles andere würde zu Fehlinvestitionen führen. Die Technologien für eine klimaneutrale Produktion sind schon weit entwickelt, doch ihr großtechnischer Einsatz scheitert bislang an fehlenden politischen Rahmenbedingungen. Agora Energiewende und das Wuppertal Institut schlagen deshalb ein Sofortprogramm vor, um die deutsche Industrie zum Vorreiter bei grünem Wasserstoff, Elektrifizierung und der Vermeidung von Prozessemissionen zu machen.

Zusammen mit weiteren Politikinstrumenten soll es die notwendige Investitionssicherheit in der Grundstoffindustrie herstellen, sodass diese bis 2050 weitgehend klimaneutral werden und an Innovationskraft gewinnen kann. Die Studie „Klimaneutrale Industrie“ wurde heute veröffentlicht, sie wird am morgigen Dienstag, 26. November in Berlin von Vertreterinnen und Vertretern aus Industrie, Bundesregierung und Wissenschaft diskutiert.

Reinvestitionsbedarf in Grundstoffindustrie ist groß

„Zwischen 2020 und 2030 steht in der Industrie eine große Reinvestitionsphase an – dies ist eine große Chance für den Klimaschutz“, sagt Prof. Dr.-Ing. Manfred Fischedick, Vizepräsident des Wuppertal Instituts. So müssen in den kommenden zehn Jahren mehr als die Hälfte der energieintensiven Anlagen in der Stahlerzeugung und in der Chemieindustrie erneuert werden und fast ein Drittel in der Zementindustrie. „Um dafür zukunftsgerichtete Investitionen tätigen zu können, brauchen die Unternehmen jetzt neue politische Rahmenbedingungen. Andernfalls droht ein Investitionsstau oder die Gefahr von Fehlsteuerungen und Lock-in-Effekten“, warnt Fischedick.

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Widerspruch zum Ziel der Bundesregierung

Denn mit einer Lebensdauer von mehr als 50 Jahren würden konventionelle Anlagen, die heute errichtet werden, bis weit nach 2050 große Mengen Treibhausgase freisetzen – was im Widerspruch zum Ziel der Bundesregierung steht, Deutschland bis 2050 klimaneutral zu machen. Wegen der Sorge, dass ihre Anlagen deshalb nicht bis zum Ende ihrer Lebensdauer produzieren dürfen, scheut die Grundstoffindustrie derzeit vor Neuinvestitionen zurück.

Energieintensive Grundstoffindustrie steht für ein Fünftel des CO2-Ausstoßes

Für den Klimaschutz ist die energieintensive Grundstoffindustrie ein entscheidender Faktor: Sie stößt gut ein Fünftel der Treibhausgase in Deutschland aus und muss ihre Emissionen damit bis 2050 um rund 180 Millionen Tonnen CO2 senken, um annähernd klimaneutral zu werden. Hierfür ist eine Trendumkehr notwendig, denn in den vergangenen zehn Jahren stagnierten die Emissionen. „Wir beobachten zwar Effizienzsteigerungen. Was aber zusätzlich nötig ist, sind Sprunginnovationen bei CO2-armen Schlüsseltechnologien“, sagt Dr. Patrick Graichen, Direktor von Agora Energiewende. Allen voran nennt die Studie hier die stärkere Nutzung von Grünstrom und grünem Wasserstoff, der aus Erneuerbaren Energien hergestellt wird. Beides kann sowohl in der Stahl- als auch in der Chemieindustrie Kohle, Öl und Gas ersetzen. In der Zementindustrie ist aus heutiger Sicht und sofern kein Durchbruch bei alternativen Baustoffen gelingt, die CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS) unausweichlich, da beim Brennen von Kalk in der Zementproduktion große Mengen an CO2 entstehen.

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Große Marktchancen für den deutschen Anlagenbau

Für die Elektrifizierung, wasserstoffbasierte Produktionsverfahren und auch für die CO2-Abscheidung bei Zement gibt es bereits zahlreiche Pilotprojekte. „Diese Schlüsseltechnologien müssen nun zum industriellen Maßstab skaliert werden, damit sie die nötigen Klimaschutzbeiträge liefern können und die Industrie globaler Vorreiter im Bereich der nachhaltigen Produktionstechnologien werden kann. International winken hierdurch große Marktchancen für den deutschen Anlagenbau“, sagt Graichen. „Mit den richtigen Rahmenbedingungen lohnt sich die Entwicklung und der Aufbau dieser Anlagen auch langfristig für die Industrie“, ergänzt Fischedick. „Dabei muss die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie immer im Auge behalten werden. Es nutzt niemandem, wenn wir zwar grün werden, dabei aber auf dem Weltmarkt unsere gute Wettbewerbsposition verlieren und Industrieproduktion aufgrund des hochkompetitiven globalen Wettbewerbs ins Ausland abwandert.“

Sieben Maßnahmen im Sofortprogramm

Die Studie schlägt sieben Maßnahmen vor, die innerhalb kurzer Zeit umgesetzt werden können:

  1. Staatliche Förderung klimafreundlicher Produktionsverfahren, sogenannte Carbon Contract for Difference (CfD), in den Sektoren Stahl, Chemie und Zement. Die Förderhöhe soll über Ausschreibungen ermittelt werden.
  2. Einführung einer Klima-Umlage auf Endprodukte wie Stahl, Aluminium, Zement und Plastik, um die CfD-Förderung zu refinanzieren
  3. Selbstverpflichtung des Bundes, bei größeren Bauprojekten klimafreundliche Materialien zu verwenden und klimafreundliche Fahrzeuge zu nutzen.
  4. Quote für grünen Wasserstoff auf dem Absatz zum Erdgas: Sie soll zum Aufbau von Produktionsanlagen für grünen Wasserstoff beitragen.
  5. Einstieg in die Kreislaufwirtschaft, um langfristig Stoffkreisläufe zu schließen und so die Verbrennung von Abfall und den Einsatz neuer Rohstoffe zu vermindern.
  6. Europäische Koordination durch Einführung dieser Instrumente auch auf EU-Ebene
  7. Eintreten der Bundesregierung für einen globalen CO2-Preis auf UN-Ebene

In diesen Gesprächen wurde auch klar: Die Industrie steht in den Startlöchern, die Herausforderung Klimaschutz offensiv anzugehen. Die fehlenden Rahmenbedingungen und der bisher unzureichende Gestaltungswille der Politik, innovative Instrumente umzusetzen, hindern sie jedoch voranzugehen