Der ungebremste Verlust der Artenvielfalt zählt zu den größten globalen Umweltproblemen. In der wissenschaftlichen und politischen Diskussion um Ursachen wird immer wieder das rasante Bevölkerungswachstum als wichtigster indirekter Treiber benannt. Doch demografische Prozesse wie Bevölkerungswachstum führen nicht zwangsläufig zu negativen Folgen für die Biodiversität, haben ISOE-Forscher herausgefunden. Sie haben knapp 150 Studien zum Zusammenhang von Bevölkerungsentwicklung und Biodiversitätsverlust ausgewertet – er erweist sich als komplexer als bisher angenommen.
Im Jahr 2050 werden laut UN rund 9,7 Milliarden Menschen auf der Erde leben. Der Bevölkerungsanstieg von jährlich rund 82 Millionen Menschen hat Konsequenzen – auch für die Artenvielfalt. Ob und wie stark es zum Verlust von Biodiversität kommt, ergibt sich aber nicht zwangsläufig aus der wachsenden Anzahl an Menschen, wie im Millennium Ecosystem Assessment der UN aus dem Jahr 2005 beschrieben. Die Biodiversitätsforscher*innen des ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung haben herausgefunden: „Der entscheidende Faktor im Zusammenhang zwischen Bevölkerung und Biodiversität ist nicht, wie viele Menschen Tier- und Pflanzenwelt beeinflussen“, sagt Marion Mehring, Erstautorin der Studie und Leiterin des Forschungsschwerpunkts Biodiversität und Bevölkerung am ISOE, „sondern in welcher Weise sie das tun“. In ihrem Artikel „A systematic review of biodiversity and demographic change: A misinterpreted relationship?“ berichten die Wissenschaftler über die Ergebnisse ihrer Studie, für die sie 148 Publikationen der letzten 30 Jahre zum Zusammenhang von Biodiversität und Bevölkerungsentwicklung ausgewertet haben. Demnach sei die Annahme, dass demografische Prozesse häufig negative Auswirkungen auf die Biodiversität haben können, zwar richtig.
„Aber nicht immer führt ein Bevölkerungswachstum automatisch zum Verlust an Artenvielfalt“, sagt Biodiversitätsforscherin Mehring.
Unter bestimmten Bedingungen könne sogar das Gegenteil der Fall sein. „Studien konnten zeigen, dass unterschiedliche Arten der Nutzbarmachung von Land, also zum Beispiel das Abbrennen im Vergleich zur Beweidung, einen entscheidenden Unterschied für die Artenvielfalt darstellen.“
„Bisheriges Verständnis von demografischem Wandel und Ökosystemen greift zu kurz“
Aus Sicht der Autoren lässt die vorhandene Wissensbasis den Schluss zu, dass der Zusammenhang von Bevölkerung und dem Verlust der Artenvielfalt detailreicher ist, als bislang im wissenschaftlichen und politischen Diskurs berücksichtigt – und komplexer, als in der öffentlichen Wahrnehmung bekannt. Mehring empfiehlt deshalb einen sozial-ökologischen Forschungsansatz, der sich konkreter auf die Beziehung zwischen Biodiversität und Bevölkerung richten soll.
Die Autoren weisen zudem auf Forschungslücken hin
Bislang sei noch zu wenig bekannt über die Rolle einzelner Faktoren des demografischen Wandels wie Bevölkerungsschrumpfung, Alterung oder Gender. Auch sei noch unklar, welche Effekte die räumliche Variabilität von Bevölkerungswachstum haben, etwa Migration. Durch Migration könne in einer Region ein Wachstum und zeitgleich in einer anderen Region eine Schrumpfung stattfinden. Auch Langzeiteffekte seien noch weitgehend unbekannt: Welche Auswirkungen können demografische Prozesse auf Biodiversität haben, die mehr als zehn Jahre zurückliegen?
Eine wichtige Rolle spielen nach Auffassung der Forscher auch bestehende Gesetze und Regulationen
Diese könnten mitunter einen stärkeren Einfluss auf Artenvielfalt haben als die reine Anzahl der Bevölkerung in einer Region. „Die wissenschaftliche Auswertung der Studienlage zeigt, dass nicht nur unser bisheriges Verständnis vom Zusammenhang zwischen demografischem Wandel und Ökosystemen zu kurz greift“, sagt Mehring, „sondern auch die Auswahl der wissenschaftlichen Indikatoren, mit denen wir den Zusammenhang von Bevölkerungsentwicklung und Biodiversität bislang gemessen haben.“ Hier sei eine Reflexion der bisherigen wissenschaftlichen Herangehensweise und eine Diskussion über neue, sozial-ökologische Ansätze notwendig.