Wie erfasst man mit vertretbarem Aufwand die komplexen Beziehungen zwischen Wildtieren, Ökosystemen und dem Menschen? Ein Team um Professor Robert Arlinghaus vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) und der Humboldt-Universität zu Berlin hat eine Methode erarbeitet, wie man das Erfahrungswissen von Gewässernutzenden so zusammenführen kann, dass das Ergebnis dem besten wissenschaftlichen Verständnis entspricht. Das ist der erste wissenschaftliche Nachweis, dass die kollektive Intelligenz von Naturnutzern auch komplexe Mensch-Umwelt-Beziehungen akkurat erfassen kann.
Die Studie des internationalen Teams aus Fischereibiologen, Informatikern und Sozialwissenschaftlern zeigt, dass das Kollektiv der Nutzer von Fischbeständen in der Lage ist, die ökologischen Ursache-Wirkungsbeziehungen der Populationsbiologie von Hechten exakt so zu identifizieren, wie es dem besten Forschungswissen entspricht. In der Studie identifizierten rund 220 Anglerinnen und Angler, Gewässerwarte und Vorstände von Angelvereinen Faktoren, die alleine oder in Wechselbeziehung zueinander die Entwicklung von Hechtbeständen bestimmen; zum Beispiel Nährstoffe, Wasserpflanzen, Nährtiere, Kormorane, Fischer und Angler. Die individuellen Vorstellungen zur Hechtbiologie – die sogenannten mentalen Abbilder der Realität – wurden mathematisch zu einem kollektiven Verständnis der ökologischen Zusammenhänge zusammengefasst. Das Wissen von 17 Fischereibiologen diente als Referenz.
Das Ergebnis verblüfft: Wenn man die ökologischen Vorstellungen der Anglerinnen und Angler zusammenführt, entspricht das Ergebnis nahezu exakt dem besten wissenschaftlichen Kenntnisstand zur Hechtbiologie. „Und das Ergebnis wird besser, je mehr Akteurinnen und Akteure an der kollektiven Lösung beteiligt sind“, erläutert Studienleiter Professor Robert Arlinghaus vom IGB.
Viele sind nicht unbedingt besser, sie müssen auch divers sein: Klingt nach einer „urdemokratischen“ Lösung. „Ganz so einfach ist es nicht. Wichtig ist, dass die Vorstellungen unterschiedlicher Typen von Gewässernutzenden – Anglerinnen und Angler, Gewässerbewirtschaftende, Vorstandsmitglieder von Angelvereinen – angemessen berücksichtigt werden“, bemerkt Erstautor Payam Aminpour, Doktorand an der amerikanischen Michigan State University. Wenn man hingegen nur das Wissen eines Typs von Akteurinnen und Akteuren nutzt, können sich falsche Vorstellungen und Mythen akkumulieren, die durch den Austausch innerhalb dieser Untergruppe entstehen. „Wenn man nur eine isolierte Akteursgruppe berücksichtigt, verschlechtert sich das kollektive Ergebnis, je mehr Menschen an der Lösung beteiligt werden“, betont Robert Arlinghaus.
Die Weisheit der Vielen greift, wenn ein mehrstufiger Analyseansatz gewählt wird. Zuerst wird das kollektive Wissen innerhalb einer Nutzergruppe ermittelt und dann werden die Ergebnisse gruppenübergreifend zusammengefasst. „Unsere Studie zeigt, dass es sinnvoll ist, das Wissen möglichst unterschiedlicher Typen von Naturnutzenden oder Interessensgruppen zu berücksichtigen. Und wenn dann innerhalb jeder Gruppe möglichst viele Meinungen einfließen, wird das Gesamtergebnis besonders gut“, fasst Robert Arlinghaus zusammen.
Die Forschenden plädieren dafür, bei der Untersuchung und dem anschließenden Management von Natur und Umwelt systematischer als heute auf das Prinzip der kollektiven Intelligenz zurückzugreifen. Das gilt vor allem dann, wenn personelle und finanzielle Ressourcen nicht ausreichen, um ein tiefes wissenschaftliches Verständnis zu erlangen. Beispielsweise ist es schwierig, rückwirkend die Entwicklung der Fischbestände in einem Fischereigebiet abzuschätzen, zu dem wissenschaftliche Begleituntersuchungen fehlen. Ein konkretes Anwendungsbeispiel, an dem Robert Arlinghaus und sein Team aktuell forschen, sind die Hechtbestände in den inneren Küstengewässern, den sogenannten Boddengewässern, rund um Rügen.