Die Dialektik von Stadt und Land

Teil 1: Trends in Sachen Landflucht

Die Bevölkerungszahlen in Deutschland entwickeln sich einer Studie der BertelsmannStiftung zufolge in den kommenden 15 Jahren extrem auseinander. Während ländliche Regionen teils dramatisch Einwohner verlieren, werden die städtischen Ballungsräume immer größer.

Die Folge wird sein, dass es auf dem Land zunehmend schwieriger werden wird, auch nur die Grundversorgung sicherzustellen. Brigitte Mohn, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, warnt vor dramatischen Folgen für den ländlichen Raum: „Es wird für schrumpfende und alternde Regionen immer schwieriger, eine gute Infrastruktur zu gewährleisten“[1], denn auch einwohnerschwache Regionen müssten flexible Mobilitätsangebote, schnelles Internet und eine angemessene medizinische Versorgung bieten.

Aber worüber sprechen wir eigentlich, wenn wir die ländlichen Räume thematisieren? Das Lexikon der Geographie sagt: „Ländlicher Raum, komplexer Begriff, der stark dem Wandel unterliegt und kaum durch eine allgemeingültige Definition fassbar ist. In der Raumordnung wird der ländliche Raum meist als ‚Restgröße‘ angesehen, als Gebiet, das weder Verdichtungsraum noch Randzone eines Verdichtungsraumes ist und in diesem Sinne im Gegensatz zum städtischen bzw. urbanen Raum steht.“[2]

Eine einheitliche Definition für die ländlichen Räume gibt es nicht, deutlich ist aber: Sie unterscheiden sich enorm in ihrer Entwicklung und ihren Perspektiven. Prägend für diese Siedlungsform ist eigentlich die Landwirtschaft – eigentlich! In den vergangenen Jahrzehnten hat hier aber eine tiefgreifende Veränderung, wenn nicht sogar eine Revolution stattgefunden: Zwar wird heute noch immer die Hälfte der Landesfläche landwirtschaftlich genutzt, doch dazu werden immer weniger Menschen gebraucht. War 1950 noch jeder vierte Berufstätige bundesweit in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigt, ist es heute nur noch jeder siebzigste.

Selbst dort, wo es weit und breit nur Wälder und Felder gibt, täuscht der Eindruck: Auch hier verdienen nicht mal vier Prozent der Landbewohner ihr Geld in der Landwirtschaft. Insgesamt gilt also: Das Dorf ist in vielen Fällen nur noch Wohnort für Pendler und landwirtschaftliche Rentner. Für die Entleerung der ländlichen Räume sind aber nicht nur die strukturellen

Veränderungen und Entwicklungen in der Landwirtschaft oder andere wirtschaftliche Gründe verantwortlich, sondern vielfach die persönliche Lebensplanung junger Menschen auf dem Lande. Die entscheiden sich beispielsweise gegen die harte und unregelmäßige Arbeit auf den Höfen und ziehen in die Städte.

Dabei gilt es anzumerken, dass es nicht nur die Last der Arbeit ist, die die jungen Menschen vertreibt, sondern auch das Nichtvorhandensein oft als selbstverständlich wahrgenommener Infrastruktur wie Internetabdeckung und ÖPNV Anbindung, das Ende der Dorf-Gastronomie und ja oft sogar das Fehlen jedweder Gemeinschaftseinrichtung. Und ziehen die Jungen in die Städte, dann stirbt das Dorf von innen. Die historischen Höfe im Kern des Dorfes bleiben ohne Nachfolger und die Menschen werden im Alter zum Versorgungsfall. Die Alten bleiben zurück, das Dorf vergreist.

Alterung wird meist als eine Komponente des demografischen Wandels in ländlichen Räumen betrachtet. Doch beeinflusst die veränderte Altersstruktur vor Ort zugunsten der höheren Lebensalter selbst wiederum die Lebenssituation der Älteren. Ältere Mitmenschen nehmen, so ein Forschungsergebnis, ihre Gemeinde als sicherer und lebendiger wahr, wenn die Altersstruktur ausgeglichener ist oder es mehr junge Menschen gibt, wie eine Studie aus Österreich herausarbeitet.[3]

Die Studie von Baumgartner, Kolland und Wank hat dabei besonders auf die Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe Älterer in ländlichen Räumen geschaut. Das hier sogenannte Teilhabepotenzial sei, so die Studie weiter, abhängig von Faktoren wie etwa dem Alter, der Gesundheit und der Bildung. Zugleich spiele das räumliche Umfeld eine Rolle, in erster Linie das Wohnumfeld und der Aktionsraum, der für tägliche Besorgungen aufgesucht wird. So sei beispielsweise der Aktionsradius von Älteren kleiner als der, jüngerer Menschen und finde hauptsächlich im Nahbereich der Wohnung oder des Hofes statt. Dieser Nahbereich ist für Ältere von besonderer Bedeutung, etwa als Treffpunkt mit anderen Menschen. Und genau dieser Nahbereich verschwindet auf dem Lande immer mehr.

Eine Folge dieser Entwicklung ist das Dörfer- und Höfesterben. Der Brandenburgische Landesbauernverband meldete im Frühjahr 2017, dass in den vergangenen zwei Jahren 90 Milchviehbetriebe ihren Betrieb eingestellt haben. Das Wiesbadener Statistische Bundesamt meldete für die gesamte Republik für den Zeitraum Frühjahr 2013 bis März 2016 einen Rückgang der Viehhaltungsbetriebe um acht Prozent. Von den Schweinefleischerzeugern gaben sogar 18 Prozent auf – und hier fast immer die kleineren Höfe. Damit verändert sich die Struktur auf dem Land grundlegend.

[1] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/wegweiserkommunede/projektnachrichten/bevoelkerungsvorausberechnung/

[2] Das Geographielexikon Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg.

[3] Baumgartner, Katrin; Wanka, Anna; Kolland, Franz: Altern im ländlichen Raum: Entwicklungsmöglichkeiten und Teilhabepotentiale. Stuttgart: Kohlhammer, 2013.