Österreichischer Biodiversitätsrat legt Perspektivenpapier an die Bundesregierung vor

Biodiversitäts- und Klimakrise mit gleicher Vehemenz bekämpfen wie COVID-19 Pandemie!

Artenreiches Niedermoor mit Wollgras (Foto: Franz Essl)

Der Österreichische Biodiversitätsrat anerkennt die COVID-19 Pandemie als „eine der größten Herausforderungen der letzten Dekaden. Sie erfordert von allen Bürgerinnen und Bürgern Einschränkungen in großem Ausmaß, gefährdet Existenzen und fördert Leid. Zurecht steht und stand das Wohl der Menschen in diesem Land im Vordergrund“, sagt die Politikwissenschafterin Alice Vadrot, ERC-Grant-Trägerin an der Universität Wien und Mitglied des Leitungsteams des Biodiversitätsrats.

Doch die Pandemie könne trotzdem nicht als isoliertes Problem gesehen werden: „Die sich weiterhin zuspitzende Umweltkrise aus Biodiversitätsverlust und Klimawandel wird sich auf längere Sicht zur größten Bedrohung unserer Lebensgrundlagen auswachsen und langfristige Verschlechterungen für die Menschen und den Standort Österreich bringen. Es ist daher notwendig, entschlossen eine gesellschaftliche Weiterentwicklung einzuleiten, die beiden Herausforderungen gerecht wird“, fordert Franz Essl, Biodiversitätsforscher an der Universität Wien und Mitglied des Leitungsteams des Biodiversitätsrates.

Die Natur und die von ihr erbrachten Leistungen sind die Grundlage für eine dauerhaft gute Lebensqualität aller Menschen. „Die Fähigkeit unserer Ökosysteme, diese Leistungen zukünftig zu erbringen, reduziert sich jedoch stetig. Ökosysteme sind als Fließgleichgewicht nur dann stabil, sofern sich relevante Parameter innerhalb bestimmter Grenzen halten, den so genannten tipping points“, erklärt Christian Sturmbauer (Karl-Franzens-Universität Graz), ebenfalls Mitglied des Leitungsteams. Werden diese überschritten, besteht die Gefahr einer raschen katastrophalen Veränderung, die Systeme und Artengemeinschaften als Ganzes betrifft.

Ein Alarmzeichen für die österreichische Umweltkrise ist der sich ungebremst verschlechternde Zustand der biologischen Vielfalt. Auf kurz oder lang führt der Artenrückgang zu massiven Risiken für unser Wohlergehen und unsere Gesundheit.

Biodiversitätsrat fordert zügige Umsetzung von Ankündigungen im Regierungsprogramm
Die aktuelle österreichische Bundesregierung übernimmt, so die Vertreter_innen des Biodiversitätsrats, in ihrem Regierungsprogramm explizit Verantwortung für die Biodiversität und plant erste wichtige Maßnahmen für den Erhalt der Biodiversität in Österreich. Diese Maßnahmen müssten nun jedoch zum Wohle der Zukunft Österreichs auch unter der Corona-bedingten Budgetsituation ambitioniert umgesetzt werden.

Das Leitungsteam des Biodiversitätsrates mit dem Koordinationsteam vom Biodiversitäts-Hub. (v.r.n.l. Christian Sturmbauer (Leitung), Irmgard Greilhuber (stv. Leitung), Thomas Wrbka (stv. Leitung), Andreas Tribsch (stv. Leitung), Franz Essl (hinten, Leitung), Andrea Höltl (Koordination), Alice Vadrot (Leitung) und Heidemarie Weinhäupl (Koordination). Foto: Walter Skokanitsch

Deshalb fordert der Österreichische Biodiversitätsrat die Politik auf, die Bekämpfung der Corona-Krise zum Anlass zu nehmen, eine ökologische und gesellschaftliche Transformation einzuleiten. Dafür müssen neue Maßstäbe gesetzt werden und neue politische Perspektiven insbesondere in folgenden Bereichen entwickelt werden:

  • Eine neue Perspektive auf Landverbrauch und -nutzung: Die Landnutzung in Österreich muss Biodiversität nachweislich sichern und fördern, anstatt sie zu vernichten. Eine flächendeckende ökologische Infrastruktur mit mindestens 10 % Vorrangflächen für die Natur muss strategisch geplant und zügig ausgebaut werden.
  • Eine neue Perspektive auf unser Wirtschafts- und Steuersystem: Rasche und umfassende Umsetzung einer sozial-ökologischen Steuerreform mit dem Ziel, Klima- und Biodiversitätsschutz gemeinsam und gleichrangig zu fördern. Die Auswirkungen von Investitionen und Gesetzen auf die Biodiversität müssen kontinuierlich abgebildet und überprüft werden. Dotierung des nationalen Biodiversitätsfonds mit 1 Milliarde Euro.
  • Eine neue Perspektive auf Bildung: Das Lehrangebot an österreichischen Schulen und Universitäten für ein Verständnis der Zusammenhänge zwischen Ökologie und Wirtschaft steigern. Die Biodiversitätsforschung und diesbezügliche Forschungseinrichtungen und Fachhochschulen ausbauen und fördern.
  • Eine neue Perspektive auf den Wert der Natur an sich und für uns Menschen: Der ökologische Wert der Natur muss auch ökonomisch bewertet und in gesellschaftlichen Abwägungsentscheidungen berücksichtigt werden, damit die Folgen aus der Förderung der Biodiversität und von nachhaltigem Handeln besser sichtbar werden. Darüber hinaus hat die Biodiversität einen intrinsischen Wert, der die Umsetzung von Umweltpolitik anleiten sollte.

„Die aktuelle Krise zeigt, dass die Bevölkerung bereit ist, ihr Verhalten in Anbetracht von Bedrohungen zu ändern. Zugleich zeigt die aktuelle Situation, dass Staaten und Organisationen, die proaktiv und frühzeitig auf die Pandemie reagieren, am besten durch die Krise gehen. Eine wichtige Lehre daraus muss sein, in der Umweltkrise nicht zuzuwarten, sondern zu handeln“, stellt dazu die Politikwissenschafterin Alice Vadrot fest.

Insgesamt zeigen sich die Vertreter des Biodiversitätsrats überzeugt, dass Österreich jetzt auch zur Einleitung des Transformationsprozesses hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft bereit sei. Nur ein rasches zukunftstaugliches Handeln könne die gravierenden Auswirkungen der Umweltkrise verhindern und einen sozialen Ausgleich gewährleisten. Der Wissenschaft komme hierbei eine besondere Bedeutung zu und sie solle im Sinne evidenz-basierter Politik in die entsprechende Ausarbeitung von Maßnahmen sowie in die Prozessbegleitung eingebunden werden.