Zu sehen bekommt man ihn äußerst selten: Ein ausgewachsener Wolf kann nicht nur hervorragend sehen und hören. Er kann auch extrem gut riechen und ortet zum Beispiel Artgenossen oder Beutetiere bis zu zwei Kilometer weit. So ist es ihm in der Regel ein Leichtes, der Begegnung mit Menschen auszuweichen. Ungefähr 150 bis 200 Quadratkilometer groß ist ein typisches Wolfsrevier. Die Größe wird dabei nicht zuletzt von dem Angebot an Nahrung vorgegeben. Wichtig ist es auch, dass den Tieren genügend Rückzugmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Die Wiederbesiedlung Deutschlands durch die Wölfe ist in der Gesellschaft ein extrem konfliktreiches Thema: Die einen begrüßen die Artenvielfalt, die anderen fürchten um ihre Herden oder gar die Sicherheit von Menschen. Kaum eine Beziehung ist so aufgeladen mit Mythen und Geschichten wie die zwischen Mensch und Wolf.
Derzeit leben laut Wolfsmonitoring in ganz Deutschland 105 Wolfsrudel, 29 Paare und elf Einzelgänger. Platz genug für deutlich mehr Wölfe als bisher gibt es theoretisch. Das belegt eine im Auftrag des Bundesamtes für Naturschutz vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW), der Technischen Universität Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Veterinärmedizinischen Universität Wien erstellte umfangreiche Studie „Habitatmodellierung und Abschätzung der potenziellen Anzahl von Wolfsterritorien in Deutschland“. Demnach gibt es in ganz Deutschland zwischen 700 bis 1400 potenzielle Wolfreviere.
„Unsere Studie zeigt, dass etwa drei Mal mehr potenzielle Wolfsreviere existieren, als Fachleute bislang angenommen hatten“, erläutert Prof. Dr. Stephanie Kramer-Schadt, Leiterin des Fachgebietes für Planungsbezogene Tierökologie an der Technischen Universität Berlin, Abteilungsleiterin für ökologische Dynamiken am Leibniz-IZW und Studienleiterin.
Die Wissenschaftlerin betont gleichzeitig: „Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass diese Zahl an Wolfsrudeln wünschenswert ist oder dass die Ausbreitung der Wölfe in Deutschland in diesem Umfang zu erwarten ist. In der Studie haben wir uns darauf konzentriert, die Lebensräume von Wölfen genau zu analysieren und anhand dieser Daten für ganz Deutschland zu ermitteln, wie viele potenzielle Lebensräume es hier gibt.“
„Mit durchziehenden Wölfen muss in ganz Deutschland gerechnet werden“
Die Wissenschaftler*innen griffen dafür zum einen auf die Daten der erfassten deutschen Wolfsrudel zurück und hatten andererseits erstmalig auch Zugang zu allen telemetrischen Daten von 20 territorialen Wölfen aus Deutschland, die in den vergangenen Jahrzehnten mit Peilsendern bestückt worden waren. „Entsprechend unserer Erwartungen zeigte sich, dass die Wölfe echte Generalisten sind. Sie leben nicht ausschließlich in großen zusammenhängenden Waldflächen, sondern nutzen zunehmend auch reine Wiesen- und Agrarflächen.
Wichtig ist in allen Fällen, dass sie einen ausreichend großen Rückzugsraum haben, in dem sie tagsüber ungestört sind. Das Nahrungsangebot durch Wildtiere wurde dabei in Deutschland als ausreichend angenommen. So kommt es zu einer deutlich höheren Anzahl an potenziellen Wolfsrevieren als erwartet“, erklärt Kramer-Schadt die Ergebnisse der Studie. „Gut geeignet für die weitere Ansiedlung von Wölfen wären demnach zum Beispiel die Alpen oder das Mittelgebirge. Weniger gut geeignet sind Großstädte oder Ballungsgebiete. Mit durchziehenden Wölfen muss aber nach unseren Ergebnissen in ganz Deutschland gerechnet werden.“
Ergebnisse der Studie nutzen, um neue Konflikte zu vermeiden
Experten gehen davon aus, dass sich die deutschen Wolfsvorkommen weiter positiv entwickeln werden. Zuständig für den Schutz und das Management des Wolfes sind die Bundesländer. Anlass für die Studie war daher auch eine Anfrage der Bundesländer an den Bund. Ziel der Länder ist es, sich auf die potenzielle weitere Besiedlung durch Wölfe vorzubereiten und so neue Konflikte zu vermeiden. Die Entscheidung, wie mit den Ergebnissen der Studie jetzt umgegangen wird, ob zum Beispiel in potenziell guten Wolfsterritorien rechtzeitig begonnen wird, Landwirte und private Tierhalter mit Herdenschutzmaßnahmen wie Elektrozäunen zu versorgen, um Weidetiere vor Wolfsübergriffen zu schützen, liegt nun bei den Ministerien und der Politik.