Die letzte Meile gehört zukünftig dem Fahrrad

Von KaiMartin (--) - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1969570

Über 300 Expertinnen und Experten zum Thema Stadtlogistik haben sich in einer deutschlandweiten Befragung dafür ausgesprochen, zur Verringerung von Lieferverkehrsströmen in Städten neue Wege zu gehen. Beispielsweise sollen anbieteroffene Mikrodepots und Lastenräder die Zustellfahrten konkurrierender Anbieter auf der „letzten Meile“ ersetzen. Damit zeigt sich laut Portal Nachhaltigkeitnews eine Entwicklung hin zu den Nachhaltigkeitszielen der UN Zu diesen Ergebnissen kommt die Studie „Logistik und Mobilität in der Stadt von morgen“, welche im Rahmen des BMBF-finanzierten Forschungsprojekts „Stadtquartier 4.0“ erstellt und jetzt am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner veröffentlicht wurde.

In den Städten nimmt die Verkehrsdichte zu, verursacht auch vom wachsenden Onlinehandel und dem zugehörigen Zustellverkehr. Konflikte um Verkehrsraum häufen sich, eine nachhaltige Ausgestaltung des Stadtverkehrs gelingt aktuell nicht. Gerade die Corona-Krise verschaffte dem Onlinehandel nun einen weiteren Schub. Praktikable Lösungen für eine nachhaltige Stadtlogistik zu entwickeln war das Ziel des Projekts „Stadtquartier 4.0“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) von Anfang 2017 bis Anfang 2020 finanziert wurde. Das Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner kooperierte darin mit der LogisticNetwork Consultants GmbH (LNC), dem Fraunhofer Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) und der Holzmarkt Quartier Versorgungsgesellschaft mbH (HMQV).

Drei Ansätze zur Verringerung von Lieferverkehren standen im Zentrum der Untersuchung:

1. die Nutzung von anbieteroffenen Mikrodepots und Paketstationen,
2. das Teilen („Sharing“) u.a. von Verkehrsmitteln, und
3. die Produktion von Konsumgütern direkt in der Stadt oder im Quartier („urbane Produktion“).

Alle drei Komponenten wurden in einem gemeinsamen Pilotprojekt in enger Kooperation mit den Verantwortlichen des Holzmarkt-Areals, eines alternativen Wohn- und Gewerbeprojekts in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg, praktisch erprobt. Das IRS war im Projektverbund für die sozialwissenschaftliche Begleitforschung verantwortlich. Diese schloss Befragungen von Expertinnen und Experten aus den Bereichen Stadtlogistik, Stadtentwicklung und Verkehr ein. Letztere wurde als Delphi-Befragung realisiert, in der die Fachleute in zwei Befragungswellen die Realisierungschancen für die neuartigen Ansätze und ihre Wirkung auf eine nachhaltige Stadtentwicklung einschätzen sollten.

Expertenprognosen zu Lieferwegen, Sharing-Angeboten und urbaner Produktion im Vergleich. Foto: IRS

Ein Großteil der Befragten sprach sich für einen radikalen Wandel in der Stadtlogistik aus. Sie zeigten sich skeptisch gegenüber rein technologieorientierten (z.B. Drohnen, unterirdische Zustellwege) oder marktgläubigen Ansätzen. Stattdessen plädierten sie für ein starkes Engagement der Kommunen, für regulatorische Eingriffe, für Kooperationen zwischen Staat und Wirtschaft, für eine intensive Beteiligung von Quartiersbewohnerinnen und -bewohnern, sowie für veränderte Konsumgewohnheiten.

Mikrodepots und Paketstationen:

Diese beurteilten die Befragten unter der Voraussetzung als wirksam, dass ein dichtes, anbieteroffenes Netz solcher Depots geschaffen wird, das sicher, einfach und zuverlässig zu benutzen ist, das mit nachhaltigen Verkehrsmitteln zur Abholung oder Endanlieferung (Lastenräder, leichte Elektrofahrzeuge) gekoppelt und durch Anreize für geändertes Konsumverhalten (z.B. Verbot kostenloser Retouren) unterstützt wird.

Das Sharing von Fahrzeugen:

Sharing wird als nachhaltig beurteilt, wenn es sich um stationsbasierte Angebote handelt, welche die Städte u.a. durch die Umwidmung von öffentlichen Stellplätzen zu Carsharing-Stellplätzen und die Vergabe von Konzessionen fördern.

Urbane Produktion:

Urbane Produktion, etwa von Lebensmitteln und Kleinserienprodukten (urbane Landwirtschaft, 3D-Druckverfahren), wird dann als wirksam beurteilt, wenn es der Stadtplanung gelingt gemischte Flächennutzungen von Wohnen und Gewerbe zu realisieren und entsprechende Nutzungskonflikte und Flächenkonkurrenzen zu entschärfen.

Foto: IRS

Für alle drei Ansätze gilt nach Ansicht der Expertinnen und Experten, dass ihr Nutzen aktiv kommuniziert und demonstriert werden muss. Dr. Ralph Richter, der die Studie mit realisiert hat, nennt weitere begünstigende Bedingungen: „Neuartige Praktiken in der Stadtlogistik haben besonders gute Realisierungschancen in dicht bebauten Gründerzeitquartieren mit einem jungen und kreativen Milieu. Deren postmaterialistische und ökologische Wertvorstellungen passen zur Nutzung von Sharing-Angeboten, Paketstationen und vor Ort hergestellten Produkten. Weniger empfänglich für solche Angebote sind hingegen ärmere Bevölkerungsschichten, obwohl gerade Carsharing auch die Haushaltskasse entlasten kann. Für eine breite Etablierung von nachhaltigen Logistiklösungen kommt es darauf an“, so Richter weiter, „diese Angebote auch für weniger privilegierte Bevölkerungsschichten attraktiv zu machen.“ Die Ergebnisse stützen sich auf eine zweistufige Delphi-Befragung von 322 (Juli 2019) bzw. 211 (September 2019) Personen, die durch ihre berufliche oder ehrenamtliche Tätigkeit über Expertise im Bereich urbane Logistik, Verkehr und Mobilität sowie Stadtentwicklung verfügen. Sie arbeiten in den Bereichen Verwaltung, Politik, Wissenschaft/Forschung, Wirtschaft und NGOs.

Die Studie „Logistik und Mobilität in der Stadt von morgen“ wurde in der neuen Online-Reihe „IRS Dialog“ veröffentlicht. Sie ist ab heute dauerhaft kostenlos abrufbar auf der Internetpräsenz des Leibniz-Instituts für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) sowie über das Repositorium EconStor.