Uni Bern: Hochwasserschäden werden unterschätzt

Bei den Murgängen vom 30. Juni 2011 bei Muotathal/SZ war ein grosser Teil der gelben Gefahrenzone («geringe Hochwassergefährdung») betroffen, wie die Spuren am nächsten Tag zeigen. © Mobiliar Lab für Naturrisiken / Magnus Gwerder / CC BY-SA 4.0

Mögliche Hochwasserrisiken wurden in der Schweiz bis anhin unterschätzt. Gebiete, in denen nur eine geringe Hochwassergefährdung besteht, sind vielerorts dicht bebaut, deshalb fallen die möglichen Gebäudeschäden in ihrer Summe viel stärker ins Gewicht als bisher angenommen. Das zeigt ein neues Online-Tool, das am Mobiliar Lab für Naturrisiken der Universität Bern entwickelt wurde. Vier von fünf Schweizer Gemeinden waren in den vergangenen 40 Jahren von Überschwemmungen betroffen. Das sorgte nicht nur für viel Beeinträchtigungen bei der betroffenen Bevölkerung, sondern auch für hohe Kosten. Viele Überschwemmungsgebiete sind heute mit Gebäuden und Infrastrukturanlagen aller Art überbaut, deshalb ist ein adäquater Schutz nötig, um grosse Schäden zu verhindern. Gerade die aktuelle Pandemie zeigt, dass die Kenntnisse über die möglichen Auswirkungen eines Ereignisses zentral sind, um die richtigen Massnahmen zu ergreifen.

Aus diesem Grund sind schweizweit für das ganze Siedlungsgebiet detaillierte Gefahrenkarten erstellt worden. Bloss: Diese Karten zeigen nur, wie häufig und wie intensiv Überschwemmungen sein können. Informationen darüber, was genau gefährdet ist, und wie hoch das Schadenausmass bei einem Hochwasser sein könnte, fehlen. «Für eine ganzheitliche Sicht im Risikomanagement sind solche Informationen aber zentral», sagt Margreth Keiler, Professorin für Geomorphologie und Risiko an der Universität Bern und Co-Leiterin des Mobiliar Labs für Naturrisiken der Universität Bern, «denn geringe Gefährdung bedeutet nicht automatisch auch geringen Schaden.» Auch die Kantone und der Bund tragen dem Rechnung und erarbeiten deshalb vermehrt Risikoübersichten.

Der über die Ufer getretene Stadtbach in Altstätten/SG hat am 28. Juli 2014 Schäden in einer gelben Gefahrenzone («geringe Hochwassergefährdung») verursacht. © Mobiliar Lab für Naturrisiken / Andreas Broger / CC BY-SA 4.0

Schadensimulator zeigt mögliches Schadenausmass für jede Gemeinde

Das Mobiliar Lab für Naturrisiken der Universität Bern unterstützt diese Bestrebungen für eine gesamtheitliche Sicht im Risikomanagement mit dem heute lancierten Schadensimulator (www.schadensimulator.ch). Dieses neue Webtool ergänzt die Gefahrenkarten mit den Auswirkungen von Hochwassern, wodurch Hochwasserrisiken besser erkennbar werden. Der Schadensimulator basiert auf neuentwickelten Modellen und statistischen Analysen, die neben Überschwemmungsschäden der vergangenen Jahre die Lage der Gebäude in den Gefahrenzonen und Informationen zu den Gebäuden berücksichtigen. Der Simulator weist für jede Gemeinde der Schweiz aus, wie gross das mögliche Schadenausmass bei einem Hochwasser ist. Mit seiner Hilfe lässt sich zudem simulieren, wie sich das mögliche Schadenausmass in Zukunft verändern könnte, zum Beispiel wenn die bestehenden Bauzonen überbaut werden. Der Schadensimulator ist deshalb eine wichtige Entscheidungshilfe für Behörden, Planerinnen und Ingenieure.

Prof. Dr. Margreth Keiler, Professorin für Geomorphologie und Risiko am Geographischen Institut und Co-Leiterin Mobiliar Lab für Naturrisiken, Uni Bern. © zvg

Grosse Schäden trotz geringer Gefährdung

Auf dem Schadensimulator basierende Forschungsarbeiten des Mobiliar Labs für Naturrisiken belegen, dass mögliche Schäden in Gebieten, in denen nur eine geringe Hochwassergefährdung besteht (gelbe Zonen auf der Gefahrenkarte), massiv unterschätzt wurden. Der Grund: Zwar sind die Schäden bei einem einzelnen Gebäude gering, doch weil die gelben Zonen oftmals stark überbaut sind, ist die Gesamtschadensumme hier auch im Vergleich mit den stärker gefährdeten blauen und roten Zonen sehr hoch. Gerade die gelbe Gefahrenzone wird aber bis heute oft vernachlässigt, um Risiken zu reduzieren. So werden hier – im Gegensatz zur blauen Zone – in den meisten Kantonen beim Um- oder Neubau von Gebäuden von den Bauherren keine spezifischen Massnahmen gegen Hochwasser verlangt.

Dank Schutzmassnahmen an Gebäuden Schäden reduzieren

Die Forschungsarbeiten mit dem Schadensimulator zeigen auch, wie sich die bauliche Verdichtung auf die durch Hochwasser gefährdeten Werte auswirkt. Geht man davon aus, dass bis im Jahr 2040 schweizweit ein Drittel der verfügbaren Bauzonenreserven überbaut werden, könnten die gefährdeten Gebäudewerte um 5.3 Mrd. Franken zunehmen. Würden die verfügbaren Bauzonenreserven schweizweit sogar komplett überbaut, könnten die gefährdeten Gebäudewerte um 16.6 Mrd. Franken zunehmen.

Je nach gewähltem Szenario zeigt das Online-Tool schadensimulator.ch unterschiedliche räumliche Muster des möglichen Schadenausmasses bei einem Hochwasserereignis. © Mobiliar Lab für Naturrisiken

Die höheren Schäden, die durch einen Anstieg der gefährdeten Gebäudewerte verursacht werden, lassen sich allerdings mit geeigneten Massnahmen begrenzen. «Angesichts des hohen möglichen Schadenausmasses wären Massnahmen auch bei einer geringen Hochwassergefährdung wichtig», erklärt Margreth Keiler. Sogenannte Objektschutzmassnahmen beispielsweise könnten schon mit tiefen Kosten eine grosse Wirkung erzielen. Solch kleine bauliche Anpassungen sind etwa erhöhte Türschwellen oder Lichtschächte, die verhindern, dass Wasser ins Gebäude eindringen kann. Soll das mögliche Schadenausmass entscheidend vermindert werden, reicht es allerdings nicht, nur bei Neubauten Objektschutzmassnahmen vorzuschreiben, betont Keiler: «Dann müssen sie zwingend auch an bestehenden Bauten realisiert werden.»