Stress in der Arktis

Wanderung zum Gletscher „Midtre Lovénbreen“ für die Probennahme von Schmelzwasser und Sedimenten. v.l.n.r. Torben Stichel (AWI), Grit Steinhöfel (AWI) und Chantal Mears (HZG). HZG/Claudia Schmidt

Der Arktische Ozean und seine angrenzenden Meere verändern sich schnell – als Reaktion auf den Temperaturanstieg, das schmelzende Meereis und die kombinierten Auswirkungen zusätzlicher Stressfaktoren für das Ökosystem wie invasive Arten und Verschmutzung. Solche abrupten, manchmal irreversiblen Veränderungen können in einer Art Kettenreaktion unvorhersehbare Auswirkungen auf das gesamte Ökosystem haben. Die arktische Meeresregion ist sehr anfällig für eine Reihe von sogenannten Kipppunkten, die eine Transformation des Systems von noch nie dagewesenem Ausmaß bewirken könnten. Auf dem Spiel stehen zwei Komponenten des Ökosystems, auf die auch die Menschen angewiesen sind: die Kohlenstoffbindung, die eine wichtige Rolle im globalen Klimasystem spielt, und die Fischerei, die das wirtschaftliche Fundament vieler arktischer Gemeinschaften bildet. „Ich freue mich sehr, dass wir Teil dieses gesellschaftlich relevanten Projekts sein können“, so Dr. Helmuth Thomas, Leiter der Abteilung Alkalinität am HZG.

Aktuell sind zwei Wissenschaftlerinnen des HZG vor Ort in der Forschungsstation AWIPEV-Basis auf Spitzbergen. Sie werden in den kommenden zwei Wochen Gletscherwasser, Eis und Fjordwasser beproben. Anschließend werden Parameter wie der pH-Wert, Kohlenstoffkonzentration, Partikel und Metallkonzentrationen gemessen. Ziel der HZG-Aktivitäten ist es, Hintergrundveränderungen zu erkennen. Helmuth Thomas erklärt: „Durch die steigenden Temperaturen schmelzen die Gletscher stärker ab. Es gelangt also mehr Frischwasser in die Fjorde. Wenn vom Wasser auf dem Weg vom Gletscher durch den Fjord bis ins Meer mehr Schadstoffe oder Partikel mitgenommen werden, könnte es im Fjord trüber werden, was weniger Phytoplankton und somit weniger Nahrung für größere Lebewesen bis hin zu Walrossen bedeuten könnte. Allerdings spielen in diesen Verkettungen nicht nur einzelne Faktoren eine Rolle, sondern es sind sogenannte multiple Stressoren, die wir noch nicht verstehen: Welche Auswirkungen hat das Zusammenspiel verschiedener Faktoren?“

Von links nach rechts: Claudia Schmidt (HZG), Chantal Mears (HZG) und Torben Stichel (AWI) nehmen Wasser- und Sedimentproben am Übergang des Schmelzwassers des Gletschers „Midtre Lovénbreen“ im Kongsfjord. AWI/Grit Steinhöfel

Das Projekt ECOTIP möchte diese Wissenslücken durch eine einzigartige Zusammenarbeit von Experten aus verschiedenen Disziplinen schließen. Beteiligt sindWissenschaftler aus den verschiedensten Bereichen wie Ökologie, Sozioökonomie, physikalische Ozeanographie und Paläoozeanographie. Der Fokus der Forscher liegt darauf, Schwellenwerte und Kipppunkte zu definieren. Schwellenwerte sind die Punkte, ab denen eine Veränderung nicht mehr aufzuhalten ist. Wenn die Änderung schließlich – oft sprunghaft – eintritt und sich das Ökosystem grundlegend verändert, sprechen die Forschenden von einem Kipppunkt.

Das ECOTIP-Projekt wird durch den Dialog mit politischen Entscheidungsträgern, der Industrie sowie lokalen und indigenen Gemeinschaften in der Arktis bereichert. Das Ziel ist es, fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, die die Menschen in die Lage versetzen, Entscheidungen über Anpassungs- und Managementstrategien zu treffen. Schlussendlich soll eine nachhaltige Nutzung der Ökosysteme für kommende Generationen gewährleistet werden.

„Die arktischen Meere sind extrem wichtig sowohl für das globale Klima, als auch für die lokale Fischerei. Dennoch wissen wir viel zu wenig über die Folgen des Wandels für die Meeresökosysteme in der Arktis und können daher nicht vorhersagen, wie sich die Ökosystemleistungen in Zukunft verändern werden. Das ECOTIP-Projekt wird viele neue Erkenntnisse in diesem Bereich schaffen, von denen lokale Gesellschaften und die globale Gemeinschaft gleichermaßen profitieren können“, sagt Dr. Marja Koski, Koordinatorin des ECOTIP-Projekts und Professorin am Nationalen Institut für aquatische Ressourcen der Technischen Universität Dänemark.

Für die kommenden Jahre sind weitere Expeditionen nach West- und Ostgrönland sowie in die Barentssee geplant. „Besonders spannend finde ich, dass wir neben den Analysen der Umwelt vor Ort auch ein interaktives Online-Tool entwickeln werden. Damit können Umweltfaktoren, wie beispielsweise Kupfergehalt, pH-Wert oder Wassertemperatur, und deren Wirkung einzeln und in Kombination dargestellt und vorhergesagt werden. Die Nutzer sehen direkt, welche Folgen Veränderungen auf das gesamte Ökosystem haben könnten“, so der Chemiker Helmuth Thomas. Damit könnten Wissenschaftler bessere Vorhersagen für die Zukunft treffen und Frühwarnmodelle entwickeln. Außerdem soll das Tool politische Entscheidungsträger im Entscheidungsprozess unterstützen.