Beginnen möchte ich mit einem Glückwunsch. Ihre Unternehmensberatung Abels & Kemmner ist von der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Management und Beratung bereits zum fünften Mal hintereinander zu den besten Beratern für den Mittelstand gewählt worden. Und wie man der Begründung entnehmen kann , liegt der Hauptgrund wohl in Ihrer Fähigkeit, die Lieferketten in mittelständischen und großen Produktions- und Handelsunternehmen zu optimieren.
Danke! Wir haben über die Jahre ein auf den Mittelstand passendes Instrumentarium entwickelt. Mit unseren datenbasierten Analysen können wir Optimierungsmaßnahmen präzise definieren und im Voraus messen und vorhersagen, wie sie wirken werden. Deshalb müssen unsere Kunden sich nicht bei der Umsetzung unserer Lösungen herantasten, sondern können die Lösungen zügig implementieren. Und dies ist gerade für den Mittelstand extrem wichtig, da beispielsweise Überbestände unnötiges Kapital binden, sowie unnötige Lagerkosten verursachen und schlechte Lieferbereitschaft zu Umsatzverlusten, Konventionalstrafen oder Sonderaufwänden führen. Andererseits wissen wir auch, wo die Gefahren liegen und können die Unternehmen warnen.
Haben Sie die Unternehmen auch vor den Folgen einer Pandemie für die internationalen Lieferketten gewarnt?
Corona haben wir nicht kommen gesehen. Niemand hat das. Aber schon vor der Pandemie wussten wir, dass es nicht sinnvoll sein kann, alles Mögliche rund um die Welt zu transportieren. In vielen Fällen sind kürzere Ketten mit kürzeren Wiederbeschaffungszeiten bei geringeren Beständen und entsprechend geringeren Kosten besser für die Unternehmen. Sie sind flexibler, weil sie schneller reagieren können. Jetzt, nach der ersten Welle, haben wir die Unternehmen befragt und festgestellt, dass rund zwei Drittel der 250 befragten deutschen Unternehmenschefs und Supply Chain Experten von einer steigenden Bedeutung der europäischen und nationalen Beschaffungsmärkte ausgehen. Jeder sechste geht sogar von einer deutlich steigenden Beschaffung in Europa und dem jeweiligen Heimatland aus.
Hat der Virus einen Supply Chain Schock ausgelöst?
Ich denke, wir sind sicherlich in einer Situation, wo sich in der Logistik in der Supply Chains einiges verändern wird. Im Mai haben wir eine Untersuchung veröffentlich, die deutlich macht, dass in der Beschaffung zu mindestens von einer deutlichen Verlangsamung bis hin zu einem sogar deutlichen Rückgang des Globalisierungstrends auszugehen ist. Man könnte dies als Europarenaissance beschreiben. Dazu kommt, dass dieser Effekt durch die zunehmende wirtschaftliche Aggression Chinas, das erratische Verhalten der amerikanischen Bundesregierung sowie den Austritt Großbritannien aus der EU verstärkt wird, die alle mit rückläufigen Beschaffungsmengen aus Europa rechnen müssen.
Wird die „Alte Welt“ wieder wichtiger?
Die von uns befragten Experten in den Unternehmen erwarten für China und den Fernen Osten in Sachen Beschaffung einen Bedeutungsverlust. 16 Prozent gehen von einem deutlichen und 50 Prozent von einem leichten Rückgang der Beschaffungsmengen aus China aus. Wohingegen sich der europäische Anteil an den importierten Produkten in der Summe erhöhen wird. Eine deutliche oder leichte Zunahme der Wichtigkeit der Beschaffungsmärkte Deutschland, Österreich und der Schweiz erwarten zwei Drittel der von uns Befragten.
Zu Beginn der Coronakrise sind zeitweise einige Medikamente in Deutschland knapp geworden. Es kam zu gesundheitsgefährdenden Engpässen. Sind die Globalisierung und die neoliberalen Fackelträger hier nicht viel zu weit gegangen?
Dieser bedauerliche Umstand ist etwas komplizierter, wenn man ihn genauer betrachtet. Ja, die meisten unserer Medikamente werden heute in China und besonders in Indien hergestellt. Aber der Grund dafür ist kein wildgewordener Kapitalismus, sondern der politisch verordnete Sparzwang in unserem Gesundheitssystem. In der Apotheke war nur noch das Billigste gut. Die Kostendämpfung im Gesundheitswesen hat so zu einer Art Zwangsglobalisierung geführt. Nach meiner Meinung haben hier die staatlichen Steuerungsmechanischen versagt.
An dieser Stelle und bei diesem Beispiel müssen wir uns über Fluch und Segen der Globalisierung sehr klar sein. Nur eine international aufgestellte Pharmaindustrie kann die Weltgemeinschaft auch wirklich mit den richtigen Medikamenten versorgen. Stellen Sie sich vor, der Virus wäre mit voller Wucht hier bei uns ausgebrochen und wir hätten tatsächlich die pharmazeutische Produktion allein hier. Sie wäre von dem gleichen Virus in der Shutdown gebracht worden, gegen den wir dringend ihre Produkte brauchen. Inzwischen ist Indien selbst heftig getroffen, aber nun laufen die europäischen Labore auf Hochtouren.
Also alles wieder gut oder gibt es doch Schuldige an einer falschen Entwicklung?
Es ist immer so einfach im Nachhinein das Blame-Game zu spielen. Eigentlich haben hier in der Vergangenheit alle vernünftig gehandelt. Der Staat wollte das Gesundheitssystem durch einen Sparkurs vor dem Zusammenbruch retten, die Industrie hat regiert und die Produktion an anderen Standorten, wie etwa in Indien, kostengünstiger organisiert und die indische Wirtschaft hat die Chance ergriffen, Kapazitäten aufgebaut und jahrelang geliefert. Und dann kam der Virus und jetzt setzt eine Phase des Umdenkens ein. Die Globalisierung wird bleiben, aber sie wird anders und wir werden in unseren Regionen umdenken.
Prof. Dr. Götz-Andreas Kemmner: Jahrgang 1959, gründete gemeinsam mit Dr. Helmut Abels die Abels & Kemmner GmbH. Nach seinem Studium des Maschinenbaus und der Wirtschaftswissenschaften an der RWTH Aachen promovierte er bei Prof. Rolf Hackstein und Prof. Walter Eversheim. In seinen gut 25 Jahren Berufserfahrung hat er über 120 nationale und internationale Projekte durchgeführt. Hinzu kommen Tätigkeiten als Interim-Geschäftsführer in zwei Automobilzuliefer-Unternehmen und als Oberingenieur am Forschungsinstitut für Rationalisierung (FIR) e. V. In über 190 Veröffentlichungen hat Prof. Dr. Kemmner als Autor, Co-Autor oder Referent mitgewirkt, zudem hält er regelmäßig Vorträge und Seminare. Seit dem 12.06.2012 Honorarprofessor an der Westsächsischen Hochschule Zwickau.