Viele Entscheidungsprozesse in der Politik basieren auf Expertenwissen, was sich gerade in der Coronazeit deutlich beobachten ließ und noch immer beobachten lässt. Und gleichzeitig bedient sich die Politik gern wissenschaftlicher Ergebnisse, die zur eigenen Agenda passen. Über das Wechselspiel von Wissenschaft und Politik spricht Soziologe PD Dr. Sebastian Büttner vom Institut für Soziologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg im Interview.
Wir leben in einer Zeit, in der sich die meisten Phänomene dieser Welt mit wissenschaftlichen Erkenntnissen erklären lassen. Trotzdem misstrauen immer mehr Menschen den Expertinnen und Experten. Beobachten wir hier das Aufkeimen einer neuen Wissenschaftsfeindlichkeit? Und wenn ja, woher kommt diese?
Während der Coronakrise wurde in Umfragen festgestellt, dass das Vertrauen in die Wissenschaft so hoch war wie selten zuvor: Im März und April lag das Vertrauen bei 82 Prozent, im Mai ist es gesunken auf 72 oder 73 Prozent. Es gibt also prinzipiell ein sehr hohes Vertrauen. Trotzdem sind circa 20 bis 25 Prozent anscheinend nicht überzeugt von Wissenschaft. Vermutlich wirken da verschiedene Faktoren. Gerade in der aktuellen Diskussion um Corona merkt man, wie kompliziert Wissenschaft sein kann – gerade dann, wenn man Gewissheitmöchte. Außerdem gibt es eine wachsende Skepsis gegenüber der Neutralität der Wissenschaft – man unterstellt der Wissenschaft, sich für die Interessen von Unternehmen oder der Politik vereinnahmen zu lassen. Das hat man im Atomdiskurs oder der Klimadebatte gesehen.
Die Politik setzt bei vielen Entscheidungsprozessen auf Expertenwissen. Doch statt Orientierung zu geben, scheinen Expertisen und Gegenexpertisen in manchen Fällen Kontroversen zu verstärken und Unsicherheit zu verbreiten – wie der öffentliche Schlagabtausch unter Virologen in den vergangenen Wochen und Monaten zeigte. Wie bewerten Sie dieses Phänomen?
Hier prallen zwei Logiken aufeinander: Eine ist die Logik der Wissenschaft, wo eigentlich der organisierte Skeptizismus herrschen sollte, Ergebnisse kritisch hinterfragt werden. Auf der anderen Seite die Politik, die verlässliche Informationen für kollektivverbindliche Entscheidungen braucht. Und dann suchen sich Politiker und Politikerinnen gerne solche Erkenntnisse, die zu ihrer Agenda passen. Denken Sie an die Heinsberg-Studie. Die Studie war an sich sehr gut. Der Virologe Streeck hat sich allerdings sehr schnell von der Politik in Nordrhein-Westfalen einspannen lassen und vorschnell Ergebnisse präsentiert. Dennoch gilt: Wissenschaftliche Erkenntnisse sind eine wichtige Grundlage für gut informierte politische Entscheidungen. Doch diese wissenschaftliche Expertise hat ihre Grenzen: dann nämlich, wenn Wertentscheidungen getroffen werden müssen.
Hierfür bedarf es der Politik, beziehungsweise diese Themen können nicht nur wissenschaftlich entschieden werden, sondern es muss um sie politisch gerungen werden. – Lassen Sie mich dies an einem Beispiel erläutern: Aus der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass Rauchen die Gesundheit gefährdet, lässt sich nicht unmittelbar die normative Forderung ableiten „Du sollst nicht rauchen“. Dies ist eine normative Frage, die auf einer anderen Ebene diskutiert und entschieden werden muss. Es kann sein, dass man hierfür wieder Expertinnen und Experten zu Rate zieht – etwa den Ethikrat. Aber im Kern geht es hier um politische Fragen, in die unterschiedliche Werte und Erwägungen mit einbezogen werden müssen. Ähnlich ist es letztlich auch beim Diskurs um die Corona-Maßnahmen.
Müssen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – ganz egal in welcher Disziplin – stärker darauf einstellen, dass ihre Forschungsergebnisse potenziell politisch sind?
Das ist wohl die Gretchenfrage der Wissenschaft, die auch vielfach von Philosophinnen und Literaten bearbeitet wurde. Ich möchte in zweifacher Weise antworten. Zum einen ja, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sollten sich immer über die normativen, gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Implikationen ihrer Forschung im Klaren sein. Viele Forschungsthemen haben politische Implikationen, auch wenn Forscherinnen und Forscher diese möglicherweise selbst nicht im Blick haben.
Forschung ist jedoch noch in einem weiteren Sinne politisch beziehungsweise politisch geprägt: nämlich in einem nicht unerheblichen Maße auch durch die Forschungsförderung. Das darf man nicht unterschätzen. Es gibt immer mehr Bedarf, bestimmte Themen zu pushen, weil man sie politisch möchte und dementsprechend orientieren sich dann auch Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen an politisch gesetzten Themen. Also ja, Forschung ist in vielerlei Hinsicht politisch, und es gibt auch eine bestimmte politische Verantwortung der Wissenschaft.
Umgekehrt möchte ich aber betonen, dass die Wissenschaftsfreiheit ein hohes Gut ist und auch die Freiheit der Forschung. Das heißt also, nicht jede Forschung sollte politisch motiviert sein und nicht jede Forschung sollte unmittelbar sozusagen auch politisch relevant sein und einen politischen Hintergrund haben. Dies ist ein Wert, den die Verantwortlichen in Wissenschaft und Politik meiner Ansicht nach stets im Blick haben sollten, gerade in einer Zeit, in der die Rufe nach der gesellschaftlichen und öffentlichen Relevanz von Wissenschaft immer lauter werden.