Das Krisenmanagement in der Corona-Pandemie und seine Akzeptanz unterscheidet sich in den Ländern weltweit. Interkulturalist Prof. Peter Franklin von der HTWG Hochschule Konstanz sieht darin einen Spiegel der unterschiedlichen Kulturen. Die hohen Infektionszahlen in den USA und in Großbritannien erklärt er unter anderem mit dem starken Drang nach individueller Freiheit.
Prof. Peter Franklin war im März als Referent für einen Vortrag zu einer Konferenz in Frankreich eingeladen. Als die Corona-Krise sich verschärfte, wurde die Veranstaltung abgesagt. Prof. Franklin erhielt eine Ausladung. Das überraschte ihn nicht. Ungewöhnlich aber war für ihn die Begründung bzw. die Rechtfertigung: Man folge mit der Absage der Anweisung von Präsident Emmanuel Macron, alle Hochschulen zu schließen. „Als an der HTWG Konstanz das Präsidium der Hochschule über die Maßnahmen in der Corona-Pandemie informierte, hat es natürlich kein einziges Mal auf Kanzlerin Angela Merkel Bezug genommen“, hält er dem entgegen. Anlass für den Wissenschaftler, die Maßnahmen verschiedener Länder in der Corona-Pandemie, ihre Kommunikation und Akzeptanz in der Bevölkerung zu beleuchten und Hintergründe wie Werte und Normen zu erläutern.
Allgemeinwohl versus individuelle Freiheit
Von entscheidendem Einfluss sind für ihn die Werte Allgemeinwohl versus individuelle Freiheit. Das Streben nach letzterer macht er für die politischen Entscheidungen und die daraufhin weiter steigenden Infektionszahlen in den USA und Großbritannien mitverantwortlich. Auf einer in der Forschung sehr bekannten Individualismus-Kollektivismus-Skala von 0 Punkten (extrem kollektivistisch) bis 100 Punkte (extrem individualistisch) werden die USA mit 91 und Großbritannien mit 89 Punkten eingeschätzt – Länder mit einer höheren Bepunktung als die der USA erscheinen auf der Skala nicht.
„Diesem tief sitzenden Individualismus ist in Großbritannien im Umgang mit der Pandemie bewusst oder unbewusst Rechnung getragen worden. Die Maßnahmen, die von der Politik getroffen wurden, waren auf jeden Fall zum Teil dadurch motiviert. Durch das – im europäischen Vergleich sehr späte – Ausrufen des Lockdowns durch die britische Regierung ist den Briten, wie Johnson sagte, das ‚uralte, unabdingbare Recht, in die Kneipe zu gehen‘ geraubt worden“, erläutert Peter Franklin.
Der sehr hohe Grad an Individualismus in Großbritannien sei in mehreren empirischen Studien und zahlreichen qualitativen Beschreibungen der gegenwärtigen britischen Kultur belegt. Individuelle Freiheit ist demnach ein sehr, sehr hohes Gut. „Der Staat – und vor allem eine konservative Regierung – darf die individuellen Freiheiten der Menschen nicht unnötigerweise beschneiden, meinen viele Briten. Das Individuum wird also oft höher geschätzt als die Gesellschaft“, betont Franklin und führt aus: „Dass die ehemalige konservative Premierministerin Margaret Thatcher in einer bemerkenswerten und heute noch viel zitierten Rede sagte, “… there is no such thing as society. There are individual men and women and there are families”, ist der Ende des 20. Jahrhunderts populär gewordene Ausdruck eines Individualismus, der in der Philosophie dem britischen Empirismus früherer Jahrhunderte zugrunde liegt und der bei den Werken verschiedener britischer Denker und Philosophen wie Francis Bacon, David Hume, John Locke und Adam Smith einen Kerngedanken bildet.“
Deutschland auf der Individualismus-Kollektivismus-Skala auf Platz 67
Wie sieht es dagegen in der Bundesrepublik aus? Deutschland steht auf der Individualismus-Kollektivismus-Skala auf Platz 67 (zur Erinnerung: 100 Punkte stehen für extrem individualistisch). Das überrasche sehr viele Menschen in Deutschland, die in ihrer Heimat eine typische, individualistische, d.h. auf Selbstverwirklichung orientierte Konsumgesellschaft sehen, sagt der gebürtige Brite Franklin. Doch sieht er eine Reihe von Faktoren, die den im Vergleich zu den USA und Großbritannien geringeren Individualismus belegen: Die Bedeutung des Allgemeinwohls, der Gesellschaft insgesamt, sehe man am deutlichsten in Deutschland in der generellen Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft oder des rheinischen Kapitalismus als gesellschafts- und wirtschaftspolitisches Leitbild, das vorsieht, dass die Gesellschaft insgesamt auch von der freien Initiative in der Wirtschaft mit profitieren sollte und nicht nur das Kapital. „Weitere Indikatoren der Bedeutung der Allgemeinheit oder auf jeden Fall der Gruppe in Deutschland ist in der Rolle von gruppenorientierten Akteuren in Wirtschaft und Gesellschaft abzulesen – die Rolle des Betriebsrats, der Gewerkschaften, der Arbeitgeberverbände, der Fachverbände, der Stiftungen, der Vereine“, so Franklin. Ist das das Geheimnis, weshalb Deutschland bisher im internationalen Vergleich glimpflich durch die Pandemie gekommen ist?
Situation in Gesellschaften mit großer Machtdistanz
Wie sieht es dann in Gesellschaften aus, die weit stärker kollektivistisch orientiert sind? Solche Länder sind häufig durch eine große, sogenannte Machtdistanz, also durch die Erwartung und Akzeptanz, geprägt, dass Macht und Einfluss ungleichmäßig verteilt sind. „Es ist also OK für diejenigen, die ganz wenig Macht und Einfluss haben, dass diejenigen ganz oben das Sagen haben.“
Die Folge: Gesellschaften oder Kulturen oder Gruppen, die durch eine große Machtdistanz gekennzeichnet sind, fehlen häufig demokratische politische Strukturen und andere partizipative Strukturen, wie wir sie in Europa kennen. Beispiele sind Malaysia, Russland und China.
Franklin führt aus: „Ein starker Mann – es handelt sich fast immer um einen Mann – führt eine mehr oder weniger kollektivistisch strukturierte Gesellschaft, in der die Gruppenmitglieder dem Mächtigen und der Gruppe als Ganzem loyal sind – zum Beispiel durch gruppenkonformes Verhalten. Im Gegenzug erhalten die Gruppenmitglieder Schutz und Fürsorge vom starken Mann und von der Gruppe.“ Hier werden also aus Loyalitätsgründen Entscheidungen zum Schutz der Gruppe von der Gruppe selbst mitgetragen, auch wenn sie undemokratisch zustande gekommen sind – durch das Wirken des starken Mannes. „Das bedeutet, dass im Extremfall Gehorsam gegenüber Mächtigen selbstverständlich und im ureigenen Interesse ist“, sagt Prof. Franklin.
„Kulturen sind lernfähige und damit auch lebensfähige Systeme“
Franklin stellt klar: Gesellschaften sind lebendig. „Angehörige jeder Kultur teilen im unterschiedlichen Maße die gemeinsamen Werte und Normen der eigenen Kultur – sie sind keine nach einer Gruppennorm generierten Klone. Wenn z.B. eine schweigende Mehrheit nicht mehr schweigt, kann sich eine Kultur neuen Gegebenheiten und Herausforderungen im sozialen Umfeld anpassen. Werte, Normen und Praktiken, die die Mitglieder der Kultur nicht mehr als nützlich oder wünschenswert erachten, weil sie der Komplexität des Lebens in der Gruppe nicht mehr gewachsen sind, ändern sich und werden ersetzt. So gesehen sind Kulturen keine statischen Gebilde, sondern lernfähige und damit auch lebensfähige Systeme.“
Von besonderer Bedeutung in der Krisenkommunikation: Vertrauen
Wie aber kann oder soll in diesen dynamischen Systemen gerade in Krisensituationen geführt werden? Gibt es eine Weltformel, die die Akzeptanz von Entscheidungen in einer Krise befördert? „Ein Faktor ist meiner Meinung nach in der Krisenkommunikation von besonderer Bedeutung: Vertrauen. Was macht Vertrauen aus? Wie kommen wir zu dem Schluss, dass eine Person vertrauenswürdig ist? In der westlichen Welt sind Kompetenz, Transparenz und Zuverlässigkeit oft ausschlaggebend. In anderen Teilen der Welt gilt Reziprozität als besonders wichtig. Aber bei allen Konzeptionen ist von überragender Bedeutung eine spürbare, wie auch immer geartete Integrität“, so Franklin.
„Auch in autoritär geführten Gesellschaften, bei denen man meinen könnte, dass die Angst vor unangenehmen Konsequenzen bei der Ablehnung von zentral getroffenen Entscheidungen die Wirkung von Vertrauen ersetzen könnte, müssen die Angehörigen der Kultur dem starken Mann vertrauen und zutrauen können, dass er im Interesse der Gruppe handelt. Deshalb ist es der chinesischen Führung so wichtig, dass die zweite Welle, die vor der Hauptstadt und Zentrum der Macht Beijing gerade grassiert, möglichst schnell unter Kontrolle gebracht wird.“
Als gutes und schlechtes Beispiel für Vertrauenswürdigkeit nennt er Bundeskanzlerin Angela Merkel und Premierminister Boris Johnson: „Frau Merkel gilt über Parteigrenzen hinweg als vertrauenswürdig. Genau diese Eigenschaft ist auch in ihrer Fernsehansprache anlässlich der Corona-Krise vermittelt worden. Die Rede war auch deshalb brillant, weil diese Eigenschaften durch sehr sensibel zum Ausdruck gebrachte Emotionen begleitet wurden. Auch dank ihrer Reputation wirkte sie in der Rede authentisch auch im affektiven Bereich, integer und deshalb absolut vertrauenswürdig. Das Kommunikationsmanagement von Boris Johnson war hingegen von Anfang an katastrophal schlecht. Seine Unfähigkeit, die Details eines Sachverhalts zu beherrschen, schürte den Eindruck der fehlenden Kompetenz und Transparenz. Plötzliche Änderungen im Pandemie-Management ließen ihn auch noch als unzuverlässig erscheinen. Aber am wichtigsten ist, dass ihm die Reputation der Integrität fehlt.“
Aber zurück zur Eingangsszene: Weshalb beziehen sich Franzosen, die wir in Deutschland als besonders freiheitsliebende Menschen wahrnehmen, die sich nicht scheuen, lautstark für ihre Rechte einzutreten, in einer Hochschul-E-Mail auf die Entscheidung ihres Präsidenten? Der Interkulturalist weist auf die im europäischen Vergleich relativ hohe Machtdistanz in Frankreich hin. Laut Franklin werde im Nachbarland eher erwartet und auch akzeptiert, dass Macht und Einfluss oben in der hierarchischen Pyramide konzentriert bleiben.
Das belegten nicht nur empirische Studien, sondern auch politische und wirtschaftliche Strukturen – z.B. repräsentiert das französische Staatsoberhaupt nicht nur, Emmanuel Macron besitzt anders als Frank-Walter Steinmeier ein sehr hohes Maß an politischer Macht; die Macht des Président-Directeur-Général eines französischen Unternehmens ist Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzender in einer Person. „Allerdings ist diese sehr deutliche Tendenz zur Konzentrierung der Macht in Frankreich nicht so stark ausgeprägt, dass von den weniger Mächtigen nicht versucht wird, Einfluss auf die Machtinhaber auszuüben. Anders als in Ländern mit extrem hoher Machtdistanz gibt es die Meinungsfreiheit in Frankreich. Mit ihren Protestaktionen beanspruchen Minderheiten wie die gilets jaunes einen Teil des oben in der Hierarchie konzentrierten Einflusses für sich.“
Prof. Peter Franklin: lehrt und forscht zu interkultureller Kommunikation und interkulturellem Management. Er hat in den zurückliegenden 30 Jahren zahlreiche Führungskräfte geschult, seit 1998 lehrt er an der HTWG Hochschule Konstanz Technik, Wirtschaft und Gestaltung, seit 2000 in den Asien-Studiengängen sowie in der wissenschaftlichen Weiterbildung der Hochschule. Er ist Mitglied im Konstanzer Institut für Corporate Governance. Prof. Franklin ist Co-Autor, mit Jeremy Comfort, von „The Mindful International Manager“ (Kogan Page) und mit Helen Spencer-Oatey von „Intercultural Interaction“ (Palgrave) und Co-Herausgeber, mit Christoph Barmeyer, von „Intercultural Management (Palgrave Macmillan), einer Sammlung von Fallstudien.