Mittlerweile ist es auch in der Politik angekommen: Um das Aussterben von Tieren und Pflanzen zu verringern, müssen deren Lebensräume geschützt und wiederhergestellt werden. Doch die entsprechenden politischen Maßnahmen stützen sich oft auf Vorhersagen durch ein einfaches theoretisches Modell, das beschreibt, wie sich die Artenzahl im Verhältnis zum vorhandenen Lebensraum verändert. Eine neue Studie im Fachmagazine Nature zeigt nun, dass dieses Standard-Modell unterschätzt, wie viele Arten tatsächlich auf lokaler Ebene aussterben.
Eine der grundlegenden Theorien im Bereich der Biodiversitätsforschung beschreibt, dass sich die Zahl der Arten mit einer Zunahme des Lebensraumes erhöht – und dass sie zurückgeht, wenn Lebensräume zerstört werden. Mithilfe dieser Theorie können Ökologen vorhersagen, wie viele Arten aussterben werden, wenn der Mensch ihren natürlichen Lebensraum zerstört, und wie viele durch entsprechende Schutzmaßnahmen geschützt werden können. Doch die Anwendung der Theorie für Vorhersagen zur Biodiversität ist nicht ohne Fehler.
Vom „Verfall von Ökosystemen“ spricht man, wenn einige Arten durch den Verlust ihres Lebensraumes mit höherer Wahrscheinlichkeit aussterben als die Standard-Theorie vorhersagt. Geprägt wurde der Begriff von einem Vorreiter der Naturschutzforschung, Thomas Lovejoy. Er beschrieb damit die Ergebnisse von Studien zu Waldinseln, die nach Rodungen im brasilianischen Amazonas zurückgeblieben waren. Das Sonnenlicht, das in das normalerweise dunkle Unterholz vordrang, schadete den Pflanzen, die an lichtarme Verhältnisse angepasst waren. Größere Tiere wie Affen und Großkatzen wurden seltener oder verschwanden ganz aus dem Gebiet.
Eine globale Analyse
Mithilfe statistischer Methoden und Datensätzen aus 123 Studien zu isolierten Lebensräumen, sogenannten Habitatinseln, auf der ganzen Welt konnten Prof. Dr. Jonathan Chase, Leiter der Forschungsgruppe Biodiversitätssynthese bei iDiv und Professor an der MLU, und seine Kollegen nun nachweisen, dass dieser Verfall von Ökosystemen weit verbreitet ist. Und sie zeigen einen Weg auf, wie realistischere Modelle zur Vorhersage der Biodiversität entwickelt werden können. So fanden sie heraus, dass Stichproben aus kleinen Habitatinseln weniger Individuen und weniger Arten beherbergen als Stichproben der gleichen Größe und Struktur, die aber in größeren Habitatflächen liegen. Auch werden sie stärker von wenigen, dafür aber sehr häufigen Arten dominiert.
Jonathan Chase sagt: „Die mathematischen Modelle, die für Vorhersagen zur Biodiversität verwendet werden, ignorieren typischerweise die Auswirkungen des Verfalls von Ökosystemen. Das liegt daran, dass wir bis jetzt keine stichhaltigen Beweise dafür hatten, wie stark diese Auswirkungen über verschiedene Ökosysteme und Arten hinweg tatsächlich sind.“ Chase fügt hinzu: „Das bedeutet, dass die meisten Vorhersagen unterschätzen, wie viel biologische Vielfalt verloren geht, wenn Lebensräume zerstört werden.“
Die Wissenschaftler brachten Jahre damit zu, die Daten aus bereits veröffentlichten Studien zum Verlust von Lebensräumen auf der ganzen Welt zusammenzutragen. Dazu zählten Inseln von Resten tropischen Regenwaldes inmitten landwirtschaftlich genutzter Flächen zum Anbau von Ölpalmen, Kaffee, Schokolade und Bananenstauden, aber auch echte Inseln innerhalb von Seen, die durch das Anlegen von Staudämmen zur Gewinnung von Strom aus Wasserkraft entstanden waren. Weitere Untersuchungsgebiete waren isolierte Naturschutzgebiete innerhalb sich ausdehnender landwirtschaftlicher und städtischer Gebiete auf der ganzen Welt. Die Studien befassten sich sowohl mit Pflanzen als auch mit einer Vielzahl von Tieren, einschließlich Vögeln, Fledermäusen, Fröschen und Insekten. In vielen Fällen waren die konkreten Daten, die Chase und seine Kollegen für ihre Analyse brauchten, in den veröffentlichen Studien nicht zu finden. „Oft haben wir die Autoren kontaktiert. Viele von ihnen haben wirklich alles getan, um uns zu helfen: Sei es, alte Notizbücher von Feldarbeiten herauszukramen, längst abgelaufen Software-Versionen oder auch Hardware zu knacken“, so Chase.
Variationen der generellen Muster
Während die generellen Auswirkungen des Verfalls von Ökosystemen eindeutig waren, fanden die Wissenschaftler auch einige interessante Variationen in ihren Datensätzen. „Die Qualität der Flächen zwischen den Habitatinseln, die wir als Matrix bezeichnen, hatte einen Einfluss darauf, wie stark die Auswirkungen des Verfalls waren“, erklärt Dr. Felix May, der zuvor bei iDiv forschte und heute als Wissenschaftler an der Freien Universität Berlin tätig ist. „Wenn die Matrix sich stark von den Habitatinseln unterschied, wie bei Landschaften mit intensiver Nutzung oder städtischen Gebieten, war der Verfall der Ökosysteme in den Habitatinseln sehr deutlich. Wenn die Matrix aber extensiv genutzt wurde, wie eine vogel- oder bienenfreundliche Landwirtschaft, dann war der lokale Artenverlust geringer.“
Co-Autorin Prof. Dr. Tiffany Knight, die an der MLU, dem UFZ und bei iDiv forscht, fügt hinzu: „Was uns überrascht hat, war, dass der Verfall von Ökosystemen in den Studien aus Europa dort schwächer ausgeprägt war, wo Lebensräume oft schon vor vielen Hundert Jahren verlorengegangen waren. Im Gegensatz zu Studien aus anderen Regionen, wo der Verlust noch nicht so lang zurücklag. Wir hatten eigentlich das Gegenteil erwartet, nämlich dass der Verfall von Ökosystemen mit dem Aussterben von Arten langsam voranschreitet. Stattdessen fanden wir heraus, dass ausgestorbene Arten von anderen ersetzt worden waren, die besser an genutzte Landschaften angepasst sind.“
Wichtige Grundlage für zukünftige Szenarien
Die Ergebnisse der neuen Studie mögen ein unheilvolles Bild zeichnen – zeigen sie doch, dass viele Vorhersagen zum Verlust der Biodiversität zu optimistisch sind. Doch die Wissenschaftler ziehen eine positivere Sichtweise vor: „Wir haben herausgefunden, dass es möglich ist, realistischere Vorhersagen dazu zu machen, wie stark die Biodiversität unter dem Verlust von Lebensräumen leidet“, meint Chase. „Damit ist es auch möglich, bessere politische Rahmenbedingungen für den Schutz von Lebensräumen zu schaffen. Und es stellt einen zusätzlichen Anreiz dar, Lebensräume zu renaturieren, um so auch die biologische Vielfalt darin wiederherzustellen.“