Weil der Bestand von Seeottern vor den Aleuten (Alaska, USA) seit den 1990er Jahren extrem geschrumpft ist, wirkt sich der Klimawandel besonders stark auf die dort verbreiteten Kalkalgenriffe aus. Diesen Zusammenhang belegt eine Studie, die heute in der Fachzeitschrift Science erschienen ist. Die äußerst komplexen Analysen, die der Studie zugrunde liegen, werden gestützt von Altersbestimmungen, die am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel für die betroffenen Algen durchgeführt wurden. Große Seetang-Wälder, die auf von Kalkalgen gebildeten Riffen wachsen, sind charakteristisch für die Ökosysteme vor der Inselgruppe der Aleuten (Alaska, USA).
Doch diese Kalkriffe könnten schon in naher Zukunft verschwinden. Schuld daran sind unter anderem die Erwärmung der Ozeane sowie sinkende pH-Werte des Meerwassers aufgrund zunehmender Kohlendioxidaufnahme. Ergebnisse einer internationalen Studie unter Leitung des Meeresbiologen Dr. Douglas Rasher vom Bigelow Laboratory for Ocean Science (Maine, USA) mit Beteiligung des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel zeigen, dass der stark geschrumpfte Bestand von Seeottern ebenfalls eine wichtige Rolle spielt.
Die Riffe vor der Küste der Aleuten bestehen aus Kalk, gebildet von der Rotalge Clathromorphum nereostratum. Ein natürlicher Fressfeind der Algen sind Seeigel. Diese stehen wiederum auf dem Speiseplan von Seeottern. Deren Bestand ist aber schon in den 1990er Jahren so weit geschrumpft, dass sie ihre Funktion als Räuber im Ökosystem nicht mehr erfüllen können. Infolgedessen ist die Zahl der Seeigel explodiert und sie haben angefangen, das Erscheinungsbild des Küstenökosystems stark zu verändern. Zuerst haben sie die dichten Seetang-Wälder deutlich gelichtet. Jetzt greifen sie deren Grundlage, die Kalkalgenriffe, an.
Die Alge Clathromorphum produziert ein Skelett aus Kalk, das sie eigentlich vor Feinden schützt. Doch die Seeigel bohren sich durch die Schutzschicht hindurch – ein Prozess, der aufgrund des Klimawandels einfacher geworden ist. „Die Erwärmung und Versauerung der Ozeane erschwert kalkbildenden Organismen die Produktion ihrer Schalen, in diesem Fall des Schutzskeletts“, sagt Douglas Rasher. „Die Schlüsselart Clathromorphum nereostratum ist nun sehr anfällig für die Beweidung durch Seeigel. Gleichzeitig hat die Zahl der Seeigel stark zugenommen. Das ist eine verheerende Kombination.“
Schon einmal, als der Seeotter im 18. und 19. Jahrhundert wegen seines Fells fast bis zur Ausrottung gejagt wurde, vermehrten sich die Seeigel vor den Aleuten massiv. Damals konnten sich die Clathromorphum-Riffe aber behaupten. „Inzwischen hat sich die Situation jedoch drastisch verändert. Unsere Studie zeigt, dass der Seeigel-Fraß an den Riffen in den letzten Jahren aufgrund der sich abzeichnenden Auswirkungen des Klimawandels viel gefährlicher ist“, betont Rasher.
Da die Alge jedes Jahr eine neue Schicht zu ihrem Skelett hinzufügt, bildet sie Wachstumsbänder – wie Jahresringe bei Bäumen. Diese Bänder archivieren auch, ob und wie massiv Seeigel in jedem Jahr geweidet haben. So konnte das Team die Vergangenheit des Ökosystems rekonstruieren. Dabei zeigte sich, dass die Beweidungsraten in jüngster Zeit in Verbindung mit steigenden Meerwassertemperaturen zunehmen.
Die Proben der Kalkalgen wurden mit Hilfe der Uran-Thorium-Methode am GEOMAR in Kiel datiert, um so eine eindeutige Chronologie der Riffentwicklung zu erhalten. „So umfassende Ökosystemrekonstruktionen wie in diesem Fall sind nur möglich, wenn viele verschiedene Disziplinen und Analysemethoden zusammenkommen. Wir arbeiten schon viele Jahre mit den Kolleginnen und Kollegen in den USA und Kanada zusammen. Deshalb hat es uns besonders gefreut, auch an dieser Studie mitzuwirken, die die Folgen des Klimawandels mit dem Verlust wichtiger Räuber und dem Verschwinden von Seetangwäldern in Beziehung setzen konnte“, sagt der Physiker Dr. Jan Fietzke vom GEOMAR.
„Es ist gut dokumentiert, dass der Mensch die Ökosysteme der Erde beeinflusst, indem er einerseits das Klima verändert und andererseits große Raubtiere dezimiert. Aber die Kombination solcher Prozesse wird selten untersucht“, betont auch Dr. Rasher. Die Entdeckung dieses Zusammenspiels zwischen Raubtieren und Klimawandel gibt aber auch Anlass zu Hoffnung. Zwar sind direkte Anstrengungen gegen die fortschreitende Erwärmung und Ozeanversauerung die wichtigsten Maßnahmen, um den Klimawandel und seine Auswirkungen auf globaler Ebene einzudämmen. Regional kann aber auch der Schutz wichtiger Arten – in diesem Fall des Seeotters – zur Stabilisierung eines ganzen Ökosystems beitragen.