Prof. Matthias Schneider, Leiter des Bereichs Medizinische und Biologische Physik an der TU Dortmund, erklärt im Interview, dass die Physik dabei helfen kann, die Corona-Pandemie zu verstehen. Er studierte Physik in Göttingen, promovierte 2003 im Bereich Biophysik an der TU München und habilitierte sich 2009 an der Universität Augsburg. 2008 war er Gastprofessor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), von 2009 bis 2015 Assistant Professor an der Boston University. Seit 2015 ist er Professor an der TU Dortmund und leitet an der Fakultät Physik den Bereich Medizinische und Biologische Physik.
Herr ProfessorSchneider, Sie haben in der ZEIT einen vielbeachteten Artikel über die Verbreitung des Coronavirus geschrieben. Was hat Physik denn mit der Pandemie zu tun?
Prof. Schneider: Die große Stärke physikalischer Konzepte ist ihre breite Anwendbarkeit. Das liegt daran, dass Physiker sehr akribisch bei deren Aufstellung sind. Auch wenn viele physikalische Konzepte zunächst sehr abstrakt klingen, kann man sie sehr gut auf verschiedenste Themengebiete anwenden: Auf Zeitreisen, Atomkerne, biologische Zellen, die Börse oder eben auch auf den Ausbruch eines Virus. Nichtlineares Verhalten zu verstehen, exponentielles Wachstum einordnen zu können oder in Wahrscheinlichkeiten und Verteilungen zu denken, gehört zum täglichen Brot vieler Physiker. All das ist exzellent geeignet, um das Kollektive und Ungewisse eines Virenausbruchs besser zu verstehen.
Was unterscheidet den Blick der Physik auf die Pandemie von dem Blick der Medizin?
Mediziner fokussieren sich auf einzelne Patientinnen und Patienten. Ein Ausbruch ist jedoch ein kollektives Phänomen. Das verlangt eine andere Denkweise, die es in der Physik gibt. Ohne Schutzmaßnahmen kann sich ein neues Virus, gegen das in der Bevölkerung noch keine Immunität existiert, exponentiell ausbreiten. Vielen Menschen fehlt jedoch die Intuition dafür, wie rasant exponentielles Wachstum ist und wie schnell es außer Kontrolle geraten kann. Um eine realistische Vorstellung zu bekommen, brauchen wir Physik und Mathematik. Einschätzungen auf Grundlage von Alltagsgewohnheiten sind sinnlos und gefährlich. Oder nehmen wir die Superspreading-Events, bei denen eine mit dem Coronavirus infizierte Person sehr viele andere ansteckt: Die Wahrscheinlichkeit für so ein Event anzugeben, ist sehr kompliziert. Dafür benötigt es Erfahrung im Umgang mit kollektiven Wahrscheinlichkeiten, wie sie in erster Linie physikalisch oder mathematisch gebildete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben.
Womit befassen Sie sich sonst in der Forschung?
Mit den physikalischen Prinzipien des Lebens. Etwas konkreter erforschen wir im Bereich Medizinphysik, wie Zellen miteinander kommunizieren und wie aus vielen einzelnen Zellen eigentlich ein multizelluläres System wird, das wir dann Organ nennen. Daraus versuchen wir eine Antwort auf die Frage zu finden, was eigentlich Gesundheit ist. Dabei folgen wir der Idee, dass physikalische Prinzipien, also die Naturgesetze, keinen Halt vor der Biologie machen. Wir wenden vor allem die Impulserhaltung und die Thermodynamik an, die die Schallausbreitung und nichtlineare Pulse erklärt, wie man sie aus der Nervenreizleitung kennt. Die Frage ist also: Unterhalten sich Zellen möglicherweise per Schall? Das ist ein recht kontroverses Forschungsthema, aber wir haben tatsächlich sehr gute Gründe anzunehmen, dass dies so sein könnte – was eine kleine Revolution für die Physik biologischer Prozesse wäre.