BioFrankfurt benennt als Biozahl für das Jahr 2020 die 0,6 – und damit den prozentualen Anteil von Wildnis an der Fläche Deutschlands: Eigentlich war das ursprüngliche Ziel der Bundesregierung bereits niedrig gesteckt: Bis zum Jahr 2020 sollten laut der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt zwei Prozent der Fläche Deutschlands als Wildnisgebiete gesichert sein. Doch dieser Wert ist nun deutlich unterboten worden: Gerade einmal 0,6 Prozent Anteil an der Landesfläche hat Wildnis in diesem Jahr. Damit konnte nur ein knappes Drittel des Ziels für 2020 erreicht werden.
Dabei ist der Ansatz, wieder mehr Wildnis zuzulassen, in vielerlei Hinsicht richtig und wichtig: Wo sich der Mensch zurückzieht, kann die Natur das Steuer übernehmen – und bekommt so Raum, sich frei zu entwickeln. Dafür braucht es Platz: 1.000 Hektar zusammenhängende Fläche sollte es mindestens sein, auf denen der Einfluss des Menschen möglichst gering ist, damit man von einem echten Wildnisgebiet sprechen kann. Ein geringer menschlicher Einfluss bedeutet, dass hier beispielsweise keine Forst- oder Landwirtschaft mehr stattfindet und die Gebiete möglichst unzerschnitten und frei von Infrastruktur sind – der Mensch ist als Gast aber weiterhin willkommen.
Denn in Wildnisgebieten finden nicht nur viele Arten Rückzugsräume, auch für uns alle ist das Zulassen von Wildnis ein echter Gewinn: Gerade im stark durch Kulturlandschaften geprägten Deutschland sind wilde Gebiete wertvolle Erholungs- und Naturerfahrungsräume. Wir können Natur dort auf eine neuartige Weise entdecken, die bereichernd und belebend wirkt. In Zeiten des sich verändernden Klimas dienen wilde Flächen als Ausgleich, denn unberührte Wälder, Flusslandschaften, Auen und Moore können die zunehmenden Extremwetterereignisse abpuffern: Hier kann Wasser versickern, Luft abkühlen, Kohlendioxid gebunden werden – und somit wird Überschwemmungen und Hitze entgegengewirkt. So bietet Wildnis tatsächlich auch viele „Leistungen“, die sich letztendlich für alle Bewohner dieser Erde rechnen.
Wildnisgebiete ergänzen zudem die Ansätze von klassischem Natur- und Artenschutz: In wilden Gebieten steht das Zulassen von dynamischen Prozessen im Vordergrund. So können wir viel Neues lernen – darüber, wie sich Natur im Laufe der Zeit entwickelt. Die natürlichen Anpassungsreaktionen der Natur können dort, wo Wildnis zugelassen wird, genau studiert werden. So wird durch Wildnisgebiete Grundlagenforschung ermöglicht, die unter anderem für die Ökologie sowie auch zukünftige Entwicklungen nachhaltiger Landnutzung wichtige Erkenntnisse liefert.
Viele verbinden Wildnis mit weit entfernten Ländern, denken an tropische Urwälder oder wenig besiedelte Gebiete im hohen Norden unserer Erde. Gerade reiche Industrienationen wie Deutschland haben jedoch die Aufgabe, mit gutem Beispiel voranzugehen, wenn es um den Erhalt unserer Naturlandschaften geht: Nur, was wir selbst leisten, können wir auch von anderen Ländern fordern. Verschiedene Initiativen setzen sich seit Jahren dafür ein, dass der Anteil wilder Fläche auch in Deutschland steigt, um dieser Vorbildfunktion gerecht zu werden.
Die Initiative „Wildnis in Deutschland“ etwa vereint unter der Koordination der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF) namhafte Organisationen unter dem Ziel, zwei Prozent Wildnis zu erreichen.
In den vergangenen Jahren haben sich die hessischen Verbände BUND Hessen, HGON, NABU Hessen und ZGF gemeinsam für große Waldschutzgebiete stark gemacht und 25 solcher Gebiete gefordert . Die hessische Landesregierung ist einigen dieser Forderungen nachgekommen und hat im waldreichsten Bundesland mittlerweile 31.900 Hektar für die freie Entfaltung der Natur vorgesehen. Das größte Gebiet liegt mit mehr als 1.000 Hektar Größe im Wispertaunus, der aufgrund seiner Vielzahl an seltenen Arten und als Teil des größten zusammenhängenden Waldgebietes Hessens als Schatzkammer der biologischen Vielfalt gelten darf. Um dieses angehende Wildnisgebiet auch für den Menschen in Wert zu setzen, initiiert die ZGF derzeit im Wispertaunus ein Projekt in Zusammenarbeit mit den Kommunen. Als schöner „Nebeneffekt“ sollen dadurch die dort bestehenden Naturwälder erweitert und besser miteinander vernetzt werden – ein Gewinn für alle.
Und auch im kleinen Maßstab lässt sich etwas bewegen: Im Projekt „Städte wagen Wildnis“ erproben Hannover, Frankfurt und Dessau-Roßlau seit 2016, wie sich Wildnis im Stadtgebiet umsetzen lässt. Dieser Ansatz der „Stadtwildnis“ lässt sich zwar nicht mit dem Konzept der „großen Wildnis“ zusammenfassen, da in der Stadt häufig nur kleine Gebiete verstärkt sich selbst überlassen werden können und hier ein kompletter Rückzug des Menschen nicht möglich ist. Dennoch können auch kleinere Projekte als Teil einer Kaskade betrachtet werden: Wer die Wildnis im Kleinen vor der eigenen Haustür zu schätzen weiß, entwickelt hierdurch womöglich ein schärferes Bewusstsein und eine erhöhte Sensibilität hinsichtlich der großen Wildnisgebiete in Deutschland. Dies wiederum trägt dann dazu bei, das Zulassen und den Schutz von Wildnis weltweit zu stärken.