Neue Technologien der Pflanzenzüchtung, vor allem die Gen-Editierung wie die Nobelpreis-Technologie CRISPR, ermöglichen eine gezielte und präzise Veränderung des Erbguts von Pflanzen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat 2018 in einem grundlegenden Fall entschieden, dass diese Technologien den gleichen gesetzlichen Regelungen unterliegen wie gentechnisch veränderte Organismen (GMO). In der Zeitschrift „Applied Economic Perspectives and Policy“ analysieren Prof. Dr. Kai Purnhagen von der Universität Bayreuth und Prof. Dr. Justus Wesseler von der Universität Wageningen die Folgen dieser Rechtslage. Sie wird sich langfristig zum Nachteil Europas und zu Gunsten Chinas auswirken.
Mit der Mutagenese, einem herkömmlichen gentechnischen Verfahren, werden zufällige Veränderungen im Erbgut von Pflanzen ausgelöst, beispielsweise durch chemische Wirkstoffe oder atomare Strahlung. Mit der Gen-Editierung lassen sich einzelne pflanzliche Eigenschaften sogar gezielt verändern. Dabei kommt auch die sogenannte „Gen-Schere“ (CRISPR) zum Einsatz – entwickelt von Emmanuelle Charpentier und Jennifer A. Doudna, die für ihre Forschungsarbeiten zur Editierung von Genomen heute mit dem Chemie-Nobelpreis 2020 ausgezeichnet wurden.
„Die Gen-Editierung ist im Vergleich mit der Mutagenese erheblich präziser und erzeugt deutlich weniger unvorhersehbare Nebeneffekte. In der internationalen Fachwelt gilt sie als sicher und als ein vielversprechender Weg, um eine wachsende Weltbevölkerung ausreichend mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Dennoch wird ihre Anwendung im Europarecht weitaus härter reglementiert als die herkömmliche Mutagenese. Dies bedeutet in der Praxis: Durch Gen-Editierung veränderte Pflanzen dürfen nur dann innerhalb der EU landwirtschaftlich erzeugt und auch nur dann auf den Markt gebracht werden, wenn sie ein ebenso teures wie zeitaufwendiges Genehmigungsverfahren erfolgreich durchlaufen haben. In zertifizierten Produkten des biologischen Anbaus dürfen diese überhaupt nicht eingesetzt werden. Landwirte in EU-Mitgliedsländern haben deshalb nur geringe Chancen, neue Gentechniken zur Erzeugung von Nahrungsmitteln einzusetzen und sich auf diese Weise am Weltmarkt zu behaupten“, sagt Prof. Dr. Kai Purnhagen und ergänzt: „Es ist ein kaum hinzunehmender Zustand, dass das EU-Recht nicht in der Lage ist, einen Rahmen bereitzustellen, in dem mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Technologien zum Vorteil der EU-Bürger eingesetzt werden können.“ Seit Oktober ist er Professor für Lebensmittelrecht an der neuen Fakultät für Lebenswissenschaften: Lebensmittel, Ernährung und Gesundheit am Standort Kulmbach der Universität Bayreuth.
In der neuen Veröffentlichung wird auf der Grundlage wirtschaftswissenschaftlicher Studien aufgezeigt, dass der Import von gentechnisch veränderten Pflanzen und Nahrungsmitteln in die EU ebenfalls erheblich erschwert wird. Dies gilt insbesondere für Importe aus Ländern, die zu den hauptsächlichen Handelspartnern der EU zählen, beispielsweise die USA. US-amerikanische Unternehmen, die mittels Gen-Editierung neue Pflanzen herstellen und vom EU-Binnenmarkt ausgeschlossen werden, könnten sogar haftbar gemacht werden, wenn sie dadurch die Exportchancen anderer US-amerikanischer Unternehmen beeinträchtigen.
Wenn es bei der derzeitigen Rechtslage in der EU bleibt, wird voraussichtlich insbesondere die Volksrepublik China von gentechnologischen Fortschritten auf dem Gebiet der Pflanzenzüchtung profitieren – und ebenso afrikanische Länder, die in wachsendem Umfang mit China Handel treiben.
Diese Länder könnten die Versorgung ihrer Bevölkerungen möglicherweise durch Importe aus China sicherstellen, ohne auf den Handel mit der EU angewiesen zu sein. Und auch für biotechnologische Unternehmen in Großbritannien werden sich voraussichtlich infolge des Brexit neue Potenziale im Welthandel ergeben.
Purnhagen weist darauf hin, dass sich die EU mit ihrer rigorosen Reglementierung neuer Gentechniken auch in ökologischer Hinsicht Schaden zufügt. „Eine Bioökonomie, die in allen Wirtschaftszweigen auf nachhaltige statt auf fossile Rohstoffe setzt, lässt sich innerhalb der EU nur dann verwirklichen, wenn dafür in ausreichendem Umfang qualitativ hochwertige Biomasse zur Verfügung steht. Dafür aber ist es unumgänglich, Pflanzen mittels moderner Gentechnik entsprechend zu verbessern. Hinzu kommt, dass viele Bioreaktoren heute schon auf genetisch modifizierte Enzyme angewiesen sind, um effizient arbeiten zu können“, sagt Purnhagen.
„Die in der EU verbreitete Bereitschaft zu einer besonders restriktiven Regulierung neuer Pflanzenzüchtungsverfahren ist wesentlich in einer Auslegung des Vorsorgeprinzips begründet, der die meisten Länder außerhalb der EU nicht folgen. Dieses Prinzip fordert von Politik und Rechtsprechung eine sorgfältige Prüfung von Gefahren und den gezielten Ausschluss unverantwortbarer Risiken. Bedauerlicherweise scheint sich jedoch in der EU die Tendenz durchzusetzen, einen wichtigen Zweig der Biotechnologie – trotz seines hohen wirtschaftlichen und ökologischen Potenzials – pauschal unter Risikoverdacht zu stellen“, sagt Purnhagen
Der Bayreuther Wissenschaftler schätzt die Chancen, dass sich die vom Europäischen Gerichtshof im Jahre 2018 geschaffene Rechtslage grundlegend verändern lässt, eher gering ein. In den letzten Jahren haben sich die politischen Mehrheitsverhältnisse in den EU-Mitgliedstaaten aus seiner Sicht zu Gunsten einer starken Reglementierung neuer Technologien in der Pflanzenzüchtung verschoben. Diese Konstellation dürfte sich nach dem EU-Austritt Großbritanniens, das auf diesem Gebiet traditionell eine eher liberale Gesetzgebung favorisiert, noch verfestigen.