Wissenschaftler des GEOMAR Helmholtz Zentrums für Ozeanforschung in Kiel haben zusammen mit mehreren Berufsfischern in der Kieler Förde Untersuchungen zum Zustand und Laicherfolg von Dorsch und Hering im Frühjahr 2020 durchgeführt. Das Ergebnis ist erschreckend und alarmierend: Nach Jahrzehnten der Überfischung sind die Bestände von Dorsch und Hering in der westlichen Ostsee so klein, dass sie während der Laichzeit nicht mehr ihr ganzes Laichgebiet mit Eiern versorgen können. Beim Hering liegt der Nachwuchs seit 2005 weit unter dem Mittel der vorherigen Jahre und nimmt kontinuierlich weiter ab.
Seit 2018 empfiehlt deshalb der Internationale Rat für Meeresforschung (ICES) eine Einstellung der Heringsfischerei, dieser Rat wurde aber bisher von den politisch Handelnden nicht befolgt. Beim Dorsch ist in vier der letzten fünf Jahre der Nachwuchs ganz oder fast ganz ausgeblieben. Der Bestand besteht daher fast nur noch aus jetzt vierjährigen Dorschen, die sich noch nicht erfolgreich fortgepflanzt haben und die Hauptlast der Dorschfischerei tragen. „Wenn wir diesen Jahrgang ohne Ersatz verlieren, dann haben wir den Bestand verloren“ sagt Dr. Rainer Froese, Meeresökologe und Experte für Fischereiwissenschaft am GEOMAR. Die zu kleinen Bestände sind zudem extrem schlecht auf den Klimawandel vorbereitet. Das zeigte sich in diesem Frühjahr, wo der ungewöhnlich warme Winter die meisten Fische dazu veranlasst hat, zu früh abzulaichen, bevor genügend Nahrung für die Larven vorhanden war. Aufgrund der zu kleinen Bestandsgrößen haben nur sehr wenige Fische zur richtigen Zeit am richtigen Ort abgelaicht.
Die Larven dieser Fische hatten mit dem zusätzlichen Problem zu kämpfen, dass sich eingeschleppte Rippenquallen im warmen Wasser massiv vermehrt haben und mit den Fischlarven um das Plankton als Futter konkurrieren. „Wir hatten noch in keinem Jahr so viele Rippenquallen in unseren Proben wie jetzt“ sagt Meeresbiologin und Expertin für Heringslarven, Dr. Catriona Clemmesen vom GEOMAR. „Alle Anzeichen deuten daher darauf hin, dass es in diesem Jahr bei Dorsch und Hering keinen Nachwuchs geben wird.“ Auch die Fischer haben die Änderungen im Ökosystem bemerkt: „Um diese Jahreszeit müsste es eigentlich massenhaft Ohrenquallen und Feuerquallen geben“, sagt Erik Meyer, Berufsfischer aus Schönberg. „Stattdessen haben wir glasklares Wasser und Quallen gibt es nicht.“ Auch Oliver Eggerland, Berufsfischer aus Laboe, hat noch nie so wenig Jungfische gesehen wie in diesem Jahr. „Normalerweise sehe ich um diese Jahreszeit Schwärme von Jungheringen im Flachwasser. Jetzt ist nichts da.“
Aus Sicht der Fischer und der GEOMAR Wissenschaftler muss dringend gehandelt werden, um eine Katastrophe abzuwenden. Sie schlagen eine völlige Einstellung jeglicher Fischerei auf Dorsch und Hering vor, bis mehrfache erfolgreiche Fortpflanzung die Bestände dauerhaft abgesichert hat. „Es kann nicht angehen, dass wir jetzt die letzten Dorsche und Heringe wegfangen,“ sagt Thorsten Reusch, Professor am GEOMAR und Experte für evolutionäre Genetik. „Die wenigen Jungfische, die trotz der widrigen Bedingungen überlebt haben, besitzen offenbar solche Erbanlagen, die wir für die Zukunft der Bestände brauchen. Sie stammen von Eltern, die erst bei höheren Temperaturen zum Laichen kommen und deren Gene müssen unbedingt an die nächsten Generationen weitergegeben werden“, fügt er hinzu.
Die Fischer und Wissenschaftler haben sich mit ihren Beobachtungen an den Umweltminister von Schleswig-Holstein, Jan Philipp Albrecht, und an die Bundesministerin für Landwirtschaft, Julia Klöckner gewandt. In ihrem Appell weisen sie deutlich darauf hin, dass die Fischer in dieser Situation nicht allein gelassen werden können. Sie schlagen angemessene Abfindung vor für Fischer, die aussteigen wollen, und angemessene Unterstützung für Fischer, die im Beruf bleiben wollen. Fischerei auf Plattfische (Scholle, Flunder, Kliesche, Steinbutt, Glattbutt) ist weiterhin möglich, Beifang von Hering und Dorsch muss dabei aber strikt vermieden oder gering halten werden.
Auch ist es aus ihrer Sicht unbedingt erforderlich, die Auswirkungen der eingeschleppten Rippenquallen auf das natürliche Nahrungsnetz der Ostsee eingehend zu untersuchen. Vielleicht gibt es ja Möglichkeiten, einheimische Räuber oder Nahrungskonkurrenten der ungebetenen Gäste so zu fördern, dass die Ausbreitung der Rippenquallen eingedämmt werden kann.
Die Zeit für Maßnahmen zur Begrenzung der Fischerei auf Dorsch und Hering ist knapp: schon am 19. und 20. Oktober treffen sich die Landwirtschaftsminister der EU und beschließen die Fangquoten für das nächste Jahr.