Kieler Materialwissenschaftler erstellen erstmals ultradünne Nanokunststoffe mit unterschiedlichen Eigenschaften: Materialien, die gleichzeitig unterschiedliche Eigenschaften haben – zum Beispiel sind sie auf der einen Seite weich und auf der anderen hart, der Übergang ist fließend – könnten ganz neue Anwendungen ermöglichen, wie graduell entspiegelte Linsen. In der Natur kommen solche ineinander übergehenden Eigenschaften tatsächlich häufig vor, etwa bei Muscheln oder im menschlichen Auge. Materialwissenschaftler der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) wollen dieses Prinzip für die Entwicklung neuer Werkstoffe im Nanomaßstab nutzen. Ihnen ist es jetzt gelungen, ultradünne Kunststoffschichten mit solchen graduell unterschiedlichen Eigenschaften herzustellen. Als multifunktionale Beschichtungen könnten sie komplexe optische und elektronische Anwendungen im Miniformat erlauben, zum Beispiel für die Mikroelektronik. Ihre Ergebnisse erschienen kürzlich in der Printausgabe der Fachzeitschrift Materials Today.
Von der Natur inspirierte Materialeigenschaften
Muscheln können an Steinen oder Stegen so fest anhaften, dass sie von der Meeresströmung nicht abgelöst werden. Damit das weiche Gewebe im Inneren der Muschelschale an der harten Oberfläche eines Steins stabil andocken kann, bilden zum Beispiel Miesmuscheln elastische Haftfäden aus, die zu ihrem Ende hin kontinuierlich härter werden. Das liegt an der Mischung von Proteinen, die sich innerhalb der Faser von einem Ende zum anderen gleichmäßig ändert.
Nach diesem Prinzip aus der Natur entwickeln Kieler Materialwissenschaftler einzigartige dünne Werkstoffe mit Eigenschaften, die ebenfalls fließend ineinander übergehen, sogenannte Gradientenschichten. „Dafür kombinieren wir auf der Nanoebene zwei Materialien mit unterschiedlichen Eigenschaften“, erklärt Erstautor Stefan Schröder, der zurzeit am Lehrstuhl für Materialverbunde promoviert. In der kürzlich erschienenen Studie präsentierten er und seine Kollegen erstmals ultradünne Gradientenschichten aus zwei Kunststoffen. Sie kombinierten Polytetrafluorethylen (PTFE, besser bekannt unter dem Handelsnamen „Teflon“) mit einem als PV3D3 bezeichneten Kunststoff. Mit dem entstandenen Materialmix könnten zum Beispiel Flugzeuge, Kühlgeräte oder Glasfronten beschichtet werden, um sie leichter zu enteisen.
Die Gradientenschicht von Doktorand Stefan Schröder (v.l.), Arbeitsgruppenleiter Professor Franz Faupel und dem Wissenschaftlichen Mitarbeiter Dr. Thomas Strunskus könnte in der Optik, Mikroelektronik oder Biomedizin eingesetzt werden. Mit einem Röntgenphotoelektronenspektrometer analysierten sie die Zusammensetzung des ultradünnen Materials.
© Julia Siekmann, CAU
Hierfür machten sich Schröder und seine Kollegen die unterschiedlichen Eigenschaften der beiden Kunststoffe zu Nutze: Teflon ist nicht nur für seine Antihaft-Eigenschaft bekannt, seine Oberfläche ist zusätzlich auch hydrophob. Wassertropfen rollen also im Idealfall sofort ab oder frieren nur wenig an, wodurch sich Eis leichter entfernen lässt. Doch dadurch lässt sich Teflon selbst nur schwer auf anderen Oberflächen anbringen. PV3D3 hingegen zeichnet sich durch gute Hafteigenschaften aus. Indem das Forschungsteam beide Stoffe auf Nanoebene graduell kombinierte, ließen sie sich in einem fließenden Übergang miteinander verbinden. So hält die Verbindung zum einen besonders gut, zum anderen bleiben die verschiedenen Eigenschaften bestehen. Das Ergebnis ist ein Beschichtungsmaterial mit einer wasserabweisenden Oberseite und einer gut haftenden Unterseite.
In einem aufwendigen Verfahren wurden zwei Kunststoffe auf der Nanoskala ineinanderfließend miteinander verbunden: Die Querschnittsaufnahme aus einem Rasterelektronenmikroskop zeigt den Übergang von PV3D3 (rot) zu PTFE (Teflon, blau). © Stefan Schröder
Dünne Kunststoffbeschichtungen – gar nicht so einfach herzustellen
Doch Beschichtungen aus Kunststoff herzustellen, ist gar nicht so einfach. Während es für die Beschichtung mit Metallen oder keramischen Materialien bereits etablierte Verfahren gibt, die auch in großem Maßstab industriell eingesetzt werden, lassen sich Kunststoffe beispielweise nicht einfach aufdampfen, ohne sich dabei zu zersetzen. Deshalb entwickelte US-Wissenschaftlerin Karen K. Gleason Mitte der 1990er Jahre am Massachusetts Institute of Technology MIT das sogenannte iCVD-Beschichtungsverfahren (initiierte chemische Gasphasenabscheidung, Initiated chemical vapor deposition). Bei einem Forschungsaufenthalt am MIT lernte auch Schröder die Technik näher kennen. „Hierbei wird ein Gas zusammen mit einem Initiator-Gas in eine Reaktionskammer geleitet, in der sich eine Substratoberfläche befindet. Durch Wärme brechen die chemischen Bindungen des Initiators auf und eine Kettenreaktion beginnt“, erklärt Doktorvater Professor Franz Faupel, Inhaber des Lehrstuhls Materialverbunde und Mitglied im nanowissenschaftlichen Forschungsschwerpunkt KiNSIS (Kiel Nano, Surface and Interface Science) der CAU. Auf diese Weise „wächst“ auf der Substratoberfläche ein dünner Polymerfilm aus den eingeführten Gasen.
Die Kieler Materialwissenschaftler gingen noch einen Schritt weiter. Sie nutzten das iCVD-Verfahren nicht nur, um eine dünne Kunststoffschicht zu erstellen, sondern auch, um dabei gleichzeitig ihre zwei Kunststoffe miteinander zu vermischen. Nach dem Einleiten des gasförmigen Ausgangsstoffes von PV3D3 fügten sie nach kurzer Zeit noch das Ausgangsgas für die Teflonabscheidung hinzu. Kontinuierlich veränderten sie die jeweiligen Konzentrationen, wodurch sich auf dem Substrat eine Schicht mit einem fließenden Übergang zwischen beiden Kunststoffen bildete.
Eine neue Klasse von Nanokunststoffen
Während dieses Verfahrens laufen zahlreiche Prozesse parallel ab. „Ändert man einzelne Parameter wie die Substrattemperatur oder den Gasdruck, hat das Endmaterial andere Eigenschaften. Die jeweiligen Parameter für die gewünschten Eigenschaften zu finden, ist allerdings sehr aufwendig“, erklärt Schröder. Also erweiterte er die herkömmliche iCVD-Anlage ihres Lehrstuhls um ein Massenspektrometer. Damit lassen sich die Prozesse in der Reaktionskammer in-situ, also live, beobachten und die Zusammensetzung der Gasmischung direkt anpassen.
Durch diese hochpräzise Regulierung gelang es dem Forschungsteam, eine nur 21 Nanometer dünne polymere Gradientenschicht herzustellen. Zum Vergleich: Das menschliche Haar hat einen Durchmesser von etwa 50.000 Nanometern. Bisher waren nur makroskopische, also deutlich dickere, Gradientenwerkstoffe realisiert worden. „Das ist praktisch Weltrekord und damit quasi eine neue Klasse von Nanomaterialien aus Kunststoff“, sagt Dr. Thomas Strunskus, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl. „Gerade für Anwendungen in der Optik ist das wichtig, denn um die optischen Eigenschaften von Fenstern oder Linsen nicht zu beeinträchtigen, dürfen Beschichtungen nur wenige Nanometer dünn sein.“ Erste Projekte mit Industriepartnern aus der Beschichtungs- und Klimatechnik sind bereits in Vorbereitung.
Mögliche Anwendungen von Mikroelektronik und Sensoren über Optik bis zu Biomedizin
Mit dem vorgestellten Verfahren lassen sich auch andere Kunststoffkombinationen mit neuen chemischen und physikalischen Materialeigenschaften realisieren, so die Forschenden. Hauchdünne Polymerschichten sind zum Beispiel auch für flexible mikroelektronische Bauteile und Sensoren in der MEMS-Technologie (mikro-elektromechanische Systeme) interessant oder für molekulare Maschinen, die mechanische Prozesse in den Nanomaßstab übertragen.
Die jetzt veröffentlichten Ergebnisse fließen auch in die Arbeit von mehreren Forschungsverbünden unter dem Dach von KiNSIS ein. „Das sind grundlegende Werkzeuge für die Materialwissenschaft. Sie können sowohl dazu beitragen, die Haftung von funktionellen Schichten in Sensoren zu verbessern als auch Materialien zur gesteuerten Freisetzung von Medikamenten zu entwickeln“, so Faupel. Der Materialwissenschaftler forscht im Sonderforschungsbereich 1261 „Biomagnetische Sensorik“ an neuartigen hochempfindlicher Sensoren und ist im Graduiertenkolleg 2154 „Materials for Brain“ an der Entwicklung von Materialien zur Behandlung von schwerwiegenden Gehirnerkrankungen beteiligt.