Wie nutzen Menschen während der Pandemie Videokonferenzen? Und wie ändert das unser Arbeiten, unser Lernen und unser soziales Miteinander? Um das zu erfahren, analysieren Medienwissenschaftler der Universität Siegen, wie User auf Twitter diese Fragen diskutieren, darunter Privatpersonen, Institutionen und Unternehmen. Von Ende Februar bis Ende April 2020 filterten die Wissenschaftler solche Inhalte auf Twitter, die das Suchwort „remote“ beinhalteten. Remote bedeutet im Deutschen fern oder kontaktfrei und wird zum Beispiel im Zusammenhang mit Arbeit, Lernen oder Kommunikation aus der Ferne benutzt. Von diesen rund 110.000 englischsprachigen Tweets analysierten die Forscher zunächst die Beiträge mit vielen Retweets, also die Texte, die am häufigsten geteilt oder kommentiert worden sind. „Twitter bildet – trotz einiger demografischer Besonderheiten – eine mediale Öffentlichkeit, die sich gut analysieren lässt.
Denn anders als zum Beispiel Facebook oder WhatsApp, wo vieles bzw. alles in privaten Gruppen geschieht, ist Twitter ein öffentliches Medium“, erklärt Projektleiter Dr. Axel Volmar vom Sonderforschungsbereich Medien der Kooperation an der Uni Siegen. „Und zwar sowohl auf der Ebene der Tweets selbst, welche von heterogenen Akteurgruppen produziert werden, als auch auf der Ebene der Programmierschnittstelle, der sog. API. Der öffentliche Zugriff über die API ermöglicht es uns beispielsweise, Tweets mit Hilfe digitaler Werkzeuge automatisch von der Plattform auszulesen und zu aggregieren.“
Software primär für Gesprächssituationen genutzt
Die untersuchten Tweets hätten eindrucksvoll gezeigt, wie sich der Stellenwert des räumlichen Zusammenseins durch die Pandemie entscheidend verändert hat. Besonders interessant finden Volmar und seine Kollegen Charline Kindervater und Sebastian Randerath, dass vor der Corona-Pandemie der Bedarf an Videokonferenzen eher gering war und die Software primär für Gesprächssituationen genutzt wurde – obwohl die technischen Mittel schon mehr hergegeben hätten. Ein Anbieter von Videokonferenz-Software, der durch die Pandemie besonders großen Zulauf bekommen hat, heißt Zoom. „Wenn Zoom vor der Pandemie genutzt wurde, dann meist in Tech-Firmen oder Start-Ups – also in Firmen, in denen ohnehin schon lokal verteilt gearbeitet wurde“, berichtet der Medienwissenschaftler.
„Obwohl der Grad der Digitalisierung in der Gesellschaft so hoch ist, wurde das Potential von Videokonferenzen in Unternehmen und Institutionen vor der Pandemie überhaupt nicht ausgereizt“, fasst Volmar zusammen. „Kaum jemand konnte sich überhaupt vorstellen, dass man mit Hilfe von Videokonferenzen auch über Entfernungen hinweg gemeinsam an einem Projekt arbeiten kann, zum Beispiel an einem Dokument oder einer Präsentation.“
Mittlerweile überwiege das Kollaborative und ziehe sich sogar bis ins Private: Yoga über Zoom sei mittlerweile nichts Außergewöhnliches mehr. Auch die Telearbeit – im Englischen remote work – also das Arbeiten fern des gewöhnlichen Arbeitsplatzes, habe vor der Pandemie im englischsprachigen Raum eine untergeordnete Rolle gespielt und sich eher auf freie Tätigkeiten und bestimmte Bereiche wie Kundenbetreuung und digitale Dienstleistungen beschränkt. Innerhalb von Organisationen sei die Haltung und Einschätzung der meisten Chefs eher ablehnend gewesen.
„Vor der Corona-Krise galt Telearbeit als schwer umsetzbar und wenig erstrebenswert. Nach den Ankündigungen von Lockdowns ab Mitte März konnte es den meisten dann gar nicht schnell genug gehen“, sagt Volmar und äußert die Hoffnung, dass die Kontakt-Beschränkungen in dieser Hinsicht auch als Chance genutzt werden könnte.
Insbesondere für Menschen mit Behinderung wäre eine größere Akzeptanz von Telearbeit von Vorteil, wie sich in der Auswertung der Tweets gezeigt habe. „Das Thema hatten wir, um ehrlich zu sein, vorab gar nicht so vorrangig auf unserer Agenda“, gibt der Medienwissenschaftler zu. Hier habe sich der Vorteil der Twitter-Analyse gegenüber einer üblichen Meinungsumfrage gezeigt, da sich die Menschen von sich aus zu vielen Themen und Kontroversen äußern, die ihnen wichtig sind.
„Man erhält daher auch viele Antworten, zu denen man eigentlich gar keine Fragen hatte, und merkt dann oft, dass sie sehr spannend und relevant sind.“ Für Menschen mit Behinderung könnte eine allgemeine Verbreitung von Telearbeit eine verbesserte Teilhabe und einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt zur Folge haben. „Viele haben sich auf Twitter empört und sehr emotional geäußert mit dem Tenor: Warum wurde uns vor der Pandemie immer gesagt, Telearbeit sei nicht möglich, und jetzt, wo es Menschen ohne Behinderung betrifft, wird alles in Bewegung gesetzt?“ fasst Volmar zusammen.
Beim Thema Telearbeit seien aber auch sozioökonomische Aspekte diskutiert worden. So sei eine ortsunabhängige Erledigung von Tätigkeiten eher bei Berufen möglich, die Menschen mit akademischem Abschluss ausüben, sagt Volmar. „Es gab auf Twitter einige Kritik daran, dass Personen mit Bürojobs besser geschützt würden, da sie eher von zu Hause aus arbeiten können.“ Gleichzeitig seien es gerade die sozialen Berufe in der Pflege und der Versorgung, die schlechter bezahlt würden und in denen Arbeitnehmer nicht von zu Hause arbeiten könnten.
Pandemische Kooperation: Medien und Gesellschaft in Corona-Zeiten
Die Forscher wollen jetzt die Anzahl der zu untersuchenden Tweets weiter erhöhen, um die Belastbarkeit ihrer Zwischenergebnisse zu überprüfen. Darüber hinaus wollen sie zusätzlich quantitative Methoden zur Analyse ihres Datensatzes einsetzen. Einen ähnlichen Versuchsaufbau planen Volmar und sein Team auch bereits für deutschsprachige Tweets. Ihre Zwischenergebnisse haben sie im Herbst bei der Jahrestagung des Sonderforschungsbereichs Medien der Kooperation vorgestellt – natürlich digital im Rahmen einer Videokonferenz. Thema der diesjährigen Jahrestagung war die „Pandemische Kooperation: Medien und Gesellschaft in Corona-Zeiten“.