Wie entstehen Nahrungsnetze und Biodiversität in Landschaften, die sich – wie das Wattenmeer – ständig ändern? Welche Rolle spielen die Ausbreitung von Organismen und die Wechselbeziehungen untereinander? Diesen Fragen wird eine neue Forschungsgruppe unter Leitung des Biodiversitätsexperten Prof. Dr. Helmut Hillebrand vom Institut für Chemie und Biologie des Meeres der Universität Oldenburg auf den Grund gehen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert das Vorhaben in den kommenden drei Jahren mit drei Millionen Euro. Die Wissenschaftler wollen auch theoretische ökologische Modelle experimentell auf ihre Aussagekraft überprüfen, um künftige Veränderungen besser vorhersagen zu können.
„Die Oldenburger Biodiversitätsforschung verfügt über internationales Renommee. Die Bewilligung der Forschungsgruppe durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft unterstreicht diesen Erfolg“, sagt Universitätspräsident Prof. Dr. Dr. Hans Michael Piper. „Die interdisziplinäre Zusammenarbeit der beteiligten Wissenschaftler wird unser Verständnis von den Prozessen in dynamischen Ökosystemen entscheidend voranbringen.“
An dem Vorhaben mit dem Titel DynaCom (Spatial community ecology in highly dynamic landscapes: from island biogeography to metaecosystems) sind neben Wissenschaftlern des Instituts für Chemie und Biologie des Meeres (ICBM) auch Forscher des Instituts für Biologie und Umweltwissenschaften (IBU) der Universität beteiligt. Hinzu kommen Partner des Instituts Senckenberg am Meer in Wilhelmshaven, des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums (SBiK-F), der Universitäten Frankfurt, Göttingen und Münster sowie des Deutsches Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig. Außerdem kooperieren die Wissenschaftler mit der Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer in Wilhelmshaven.
Der Biodiversitätsexperte Prof. Dr. Helmut Hillebrand leitet die neue DFG-Forschungsgruppe an der Universität Oldenburg
Vor gut 50 Jahren etablierten Wissenschaftler mit der sogenannten Theorie der Inselbiogeographie ein erfolgreiches Konzept der Ökologie. Dieses ermöglicht zu analysieren, welche Rolle das dynamische Gleichgewicht zwischen Einwandern und Aussterben von Arten für die Gesamtzahl der Arten auf einer Insel spielt. „Diese Theorie hat mittlerweile große Bedeutung – auch im praktischen Naturschutz. Denn durch die Zersiedelung von Landschaften sind viele inselartige, isolierte Lebensräume entstanden“, sagt Hillebrand. „Allerdings ermöglicht die Theorie nicht vorherzusagen, welche Arten solche Inselhabitate besiedeln und wie sie interagieren.“ Genau diese Information sei jedoch nötig, um prognostizieren zu können, wie sich Umweltänderungen, beispielsweise durch den Klimawandel, auf die Dynamik von Ökosystemen auswirken, erläutert der Wissenschaftler.
Hier setzen die Forscher jetzt an: Sie wollen genauer untersuchen, welche Eigenschaften von Organismen bestimmen, dass sich die Organismen in einem Ökosystem etablieren können und welche Rolle sie in einem Nahrungsnetz spielen. Bei dieser sogenannten merkmalsbasierten ökologischen Forschung betrachten Wissenschaftler nicht einzelne Arten, sondern typische Eigenschaften oder Funktionen verschiedener Arten, zum Beispiel wie sie sich ausbreiten, fliegend, schwimmend oder passiv, oder wie sie ihre Nahrung aufnehmen. Der Vorteil dieser Vorgehensweise: Die Ergebnisse lassen sich leichter verallgemeinern und auf andere Nahrungsnetze und Ökosysteme weltweit übertragen.
Die verschiedenen Merkmale wollen die DynaCom Wissenschaftler beispielhaft am Ökosystem Wattenmeer untersuchen. Hier ändern sich die Umweltbedingungen schnell, sowohl regelmäßig durch die Gezeiten, als auch zufällig. „Da im Wattenmeer terrestrische und marine Lebewesen aufeinander treffen, können wir so die räumliche und zeitliche Dynamik beider Teile des Nahrungsnetzes analysieren und unsere theoretischen Vorstellungen überprüfen“, erläutert Hillebrand. Dabei greifen die Forscher auch auf ein grundlegendes, bereits vorhandenes Wissen über das Vorkommen von Organismen in der Region zurück. Zudem wird das Konsortium für Beobachtungen und gezielte Experimente zwölf künstliche Inseln nutzen, die bereits 2014 im niedersächsischen Wattenmeer bei Spiekeroog errichtet wurden. Hier können die Forscher auf lokaler Skala unter anderem untersuchen, welche Organismen wie schnell bestimmte Habitate besiedeln und wie sich etwa Sturmfluten auf die Lebensgemeinschaften auswirken.
Um allgemeinere Aussagen zur Entwicklung ökologischer Gemeinschaften treffen zu können, nutzen die Wissenschaftler außerdem mathematische Modelle und Datensätze, die Fachleute weltweit aus Studien von Inselökosystemen gewonnen haben. „Wir wollen umfassend verstehen, welche Rolle jeweils die Ausbreitung von Organismen und die Wechselbeziehungen dabei spielen, wenn sich Nahrungsnetzstrukturen und Biodiversität in dynamischen Landschaften etablieren“, fasst Hillebrand zusammen.