Milliarden Menschen leben in Küstennähe. Ein Anstieg des Meeresspiegels aufgrund des Klimawandels kann für sie existenzbedrohend werden. „Um Menschen und Infrastruktur zu schützen – beispielsweise indem man Flutschutzanlagen baut, Häfen befestigt oder Deiche erhöht – braucht man zuverlässige Prognosen über die Entwicklung“, erklärt Prof. Florian Seitz, Leiter des Deutschen Geodätischen Forschungsinstituts der TUM. „Die Voraussetzung dafür sind allerdings genaue Daten mit hoher räumlicher Auflösung. Und die waren bisher nicht flächendeckend verfügbar.“
Ausgerechnet in Küstennähe, wo sich Städte, Häfen, Industrie- und Wohngebiete befinden, sind die Messdaten der Radarsatelliten, die seit Jahrzehnten die Erde umkreisen, oft verrauscht. Der Grund: Berge, Buchten und vorgelagerte Inseln verursachen Streuungen der Signale und verfälschen die Echos, die reflektiert werden. Ein weiteres Problem ist Meereis, das im Winter Teile der Ozeane bedeckt: Es ist für Radaraugen undurchdringlich.
Im Projekt Baltic Sea Level, kurz Baltic SEAL, hat ein TUM-Forschungsteam gemeinsam mit internationalen Partnern Algorithmen entwickelt, um Messdaten von Radarsatelliten so aufzubereiten, dass sich Meeresspiegeländerungen auch in Küstennähe und unter Eis hochauflösend und mit hoher Genauigkeit erkennen lassen.
Radarblick durch Eis und Inseln
Als Modellregion wählten die Forschenden die Ostsee: „Daten aus dieser Region sind für die Entwicklung neuer Auswertemethoden besonders gut geeignet, weil hier mehrere Faktoren die Analyse erschweren: der komplizierte Küstenverlauf, Meereis und Wind. Gleichzeitig gibt es viele lokale Pegelmessungen für die Überprüfung der Ergebnisse“, erläutert Projektleiter Dr. Marcello Passaro. „Eine Analysemethode, die in der Ostsee funktioniert, kann leicht auf andere Regionen übertragen werden.“
Um hunderte Millionen Radarmessungen aus den Jahren 1995 bis 2019 aufzubereiten, musste das Team ein mehrstufiges Verfahren entwickeln: Im ersten Schritt wurden die Messdaten der verschiedenen Satellitenmissionen kalibriert, um sie kombinieren zu können. Mit eigens entwickelten Algorithmen gelang es dann, in den Radar-Reflexionen des eisbedeckten Meeres Signale von Wasser aufzuspüren, das entlang von Rissen und Spalten hervortritt. Auf diese Weise konnte auch für die Wintermonate die Höhe des Meeresspiegels ermittelt werden. Dank neuer Rechenverfahren gelang es außerdem, die Radarechos in Landnähe besser aufzulösen.
Somit lässt sich jetzt auch im Küstenbereich die Meereshöhe messen und mit den lokalen Pegelständen vergleichen. Die aufbereiteten Daten wurden dann von einem eigenen Algorithmus in ein engmaschiges Gitternetz mit Punktabständen von sechs bis sieben Kilometern übertragen. Das Ergebnis: Ein sehr präziser und flächendeckender Datensatz.
Im Bottnischen Meerbusen steigt der Meeresspiegel am stärksten
Die Analyse dieser Daten für die Ostsee zeigt die regionalen Auswirkungen des Meeresspiegelanstiegs während des letzten Vierteljahrhunderts: Während im Süden, an der deutschen und dänischen Küste, der Meeresspiegel jährlich um zwei bis drei Millimeter stieg, waren es im Nordosten, im Bottnischen Meerbusen, sechs Millimeter. Die Ursache dieses starken Anstiegs: starke Südwestwinde, die das Wasser nach Nordost drängen. Für die Küstenbewohner stellt dieser überdurchschnittliche Anstieg des Meeres allerdings keine Bedrohung dar, denn das Land hebt sich bereits seit dem Ende der letzten Eiszeit – derzeit um bis zu einen Zentimeter pro Jahr.
„Durch die neu entwickelten Verfahren zur Auswertung und Kombination der Radardaten haben wir jetzt die Möglichkeit, auch für andere Küstenbereiche genaue und zuverlässige Aussagen über die Meeresspiegeländerungen der letzten Jahrzehnte zu treffen“, ergänzt Dr. Denise Dettmering. Die Forscherin hat auch für die Nordsee einen flächendeckenden Datensatz erstellt: Dort steigt der Meeresspiegel im Mittel um 2,6 Millimeter im Jahr, in der Deutschen Bucht beträgt der Anstieg 3,2 Millimeter. Mit Hilfe der Daten und des Nutzerhandbuchs – beides ist im Netz frei verfügbar – lassen sich lokale Trends ermitteln. „Damit können zum Beispiel Forscher ihre Klimamodelle verifizieren und Behörden geeignete Schutzmaßnahmen planen“, resümiert Seitz.