Pestizide sichern die Erträge in der Landwirtschaft, indem sie schädliche Insekten, Pilze und Unkräuter bekämpfen. Sie gelangen aber auch in Bäche und schädigen die aquatischen Lebensgemeinschaften, die für den Erhalt der Artenvielfalt entscheidend sind, Teil des Nahrungsnetzes sind und die Selbstreinigung des Wassers unterstützen. In einem bundesweiten Monitoringprogramm haben Wissenschaftler unter UFZ-Leitung gezeigt, dass die Grenzwerte für Pestizide zu hoch angesetzt sind und selbst diese in über 80 Prozent der Gewässer überschritten werden. Wie sie schreiben, kann der Verlust der Artenvielfalt nur gestoppt werden, wenn die Umweltrisikobewertung der Pestizide reformiert wird.
Zwei Jahre lang haben Forscher die Pestizidbelastung an mehr als 100 Messstellen an Bächen untersucht, die durch überwiegend landwirtschaftlich genutzte Tieflandregionen in zwölf Bundesländern fließen. Sie stellten dort erhebliche Überschreitungen des RAK-Werts fest – das ist die im behördlichen Zulassungsverfahren eines Pflanzenschutzmittels festgelegte Konzentration eines Wirkstoffs, die im Gewässer nicht überschritten werden darf, um negative Auswirkungen auf Gewässerorganismen zu verhindern.
So wurden die RAK-Werte in der überwiegenden Mehrzahl der Gewässer überschritten (81 Prozent). In 18 Prozent der Bäche wurden sogar für mehr als zehn Pestizide derartige Überschreitungen nachgewiesen. „Wir haben bundesweit eine deutlich höhere Pestizidbelastung in den Kleingewässern nachgewiesen als wir das ursprünglich erwartet haben“, sagt Prof. Matthias Liess, Ökotoxikologe am UFZ und Koordinator des Projekts Kleingewässermonitoring. Zum Beispiel überschritt Thiacloprid, ein Insektizid aus der Klasse der Neonicotinoide, den RAK-Wert in drei Gewässern um mehr als das 100fache. Andere Insektizide wie Clothianidin, Methiocarb und Fipronil, aber auch Herbizide wie Terbuthylazin, Nicosulfuron und Lenacil toppten den RAK-Wert um den Faktor 10 bis 100 in 27 Gewässern.
Die Studie ermöglicht erstmals ein Ranking der Umweltprobleme
Aufgrund des umfangreichen Datensatzes konnten die Forscher nachweisen, dass Pestizide auf Lebensgemeinschaften aquatischer Wirbelloser bereits in viel niedrigeren Konzentrationen wirken als bisher in der Pestizid-Zulassung angenommen. Ab welcher Konzentration das der Fall ist, hängt davon ab, welche Arten überleben sollen. Sollen in Kleingewässern beispielsweise empfindliche Insektenarten wie Köcherfliegen und Libellen geschützt werden, sind sehr viel niedrigere Grenzwerte – um den Faktor 1.000 – notwendig als wenn eher unempfindliche Schnecken und Würmer erhalten werden sollen.
„Für empfindliche Insektenarten ist die Pestizidkonzentration in den kleinen Tieflandgewässern der wesentliche Faktor, der ihr Überleben bestimmt. Andere Umweltprobleme wie Gewässerausbau, Sauerstoffmangel oder zu hoher Nährstoffgehalt spielen dagegen eine geringere Rolle“, sagt Matthias Liess. Damit habe diese Studie erstmals ein Ranking der Umweltprobleme ermöglicht.
In der derzeitigen Zulassungspraxis von Pflanzenschutzmitteln wird die hohe Empfindlichkeit der Arten im Ökosystem unterschätzt. Denn bislang wird das ökologische Risiko von Pestiziden im Freiland auf Basis von Laborstudien, künstlichen Ökosystemen und Simulationsmodellen vorhergesagt. Die Ergebnisse aus dem Labor spiegelten aber laut Matthias Liess nicht die Realität wider:
„Im Ökosystem wirken neben Pestiziden noch zahlreiche weitere Stressoren auf die Organismen, sodass diese auf Pestizide deutlich empfindlicher reagieren. Natürliche Stressoren wie der Räuberdruck oder die Konkurrenz der Arten werden im Zulassungsverfahren nicht ausreichend berücksichtigt. Diese offensichtlichen Probleme fallen aber nicht auf, da sowohl die Menge des Pestizideintrags als auch ihre Wirkung weder in Deutschland noch in anderen Staaten in der Umwelt validiert werden“, sagt er.
Im Verlauf des Kleingewässermonitorings stellten die Wissenschaftler weiter fest, dass die Art der Probenahme entscheidenden Einfluss auf die gemessenen Konzentrationen der Pestizide hat. Sie hatten nämlich nicht nur die von der EU-Wasserrahmenrichtlinie als Standard vorgegebene Schöpfprobe genommen, sondern auch eine sogenannte Ereignisprobe. Dabei nimmt ein automatisch gesteuerter Probenehmer nach einem Niederschlagsereignis Wasserproben aus dem Gewässer.
„Die Ereignisprobe liefert wesentlich realistischere Ergebnisse, da die Pestizide insbesondere bei Niederschlägen durch den aufkommenden Oberflächenabfluss vom Acker in die Gewässer eingetragen werden“, sagt Matthias Liess.
Die ereignisbezogenen Proben weisen gegenüber den Schöpfproben eine 10-fach höhere Belastung auf. „Um die Gewässerbelastung realistisch abzubilden, müssen Proben nach Regenfällen genommen werden. Deshalb brauchen wir ein regelmäßiges behördliches Umweltmonitoring, um die Menge und die Auswirkungen der Pestizide bewerten zu können“, sagt Matthias Liess. Auch müssten neue wissenschaftliche Erkenntnisse schneller als bislang in den Zulassungsprozess neuer Pflanzenschutzmittel einfließen, fordern er und seine Kollegen. „Dass heute noch Pestizide eingesetzt werden, deren Zulassung viele Jahre zurückliegt und damit oft auf einer überholten Risikobewertung beruht, muss sich schnellstens ändern. Nur so können wir die Artenvielfalt in unseren Gewässern erhalten und mit ihnen die Leistungen, die diese Lebensgemeinschaften für unsere Ökosysteme erbringen.“