Studie zur allgemeinen Schulpflicht in Äthiopien

Ländliche Grundschule in Äthiopien. Foto: Sabrina Maurus.

Die Bayreuther Sozialanthropologin Sabrina Maurus ist mit einem Nachwuchsförderpreis für exzellente und praxisrelevante Entwicklungsforschung ausgezeichnet worden. Der Preis wird jährlich von der KfW Entwicklungsbank und dem entwicklungsökonomischen Ausschuss des Vereins für Socialpolitik verliehen. Sabrina Maurus erhielt den zweiten von drei Preisen, der mit 3.000 Euro dotiert ist. In ihrer preisgekrönten Bayreuther Dissertation hat sie die problematischen Folgen herausgearbeitet, die mit der Durchsetzung einer allgemeinen Schulpflicht in Äthiopien einhergingen.

@UniBayreuth

Forschungsaufenthalte von Sabrina Maurus in Äthiopien erstreckten sich insgesamt über 19 Monate in den Jahren zwischen 2012 und 2015. Dabei interessierte sie sich insbesondere für die Region Süd-Omo im Südwesten des Landes. Existenzgrundlage einer hier lebenden Bevölkerungsgruppe der Hamar sind Landwirtschaft und Viehzucht. Staatliche Einflüsse waren in dieser Region über lange Zeit im Alltagsleben wenig spürbar. Dies änderte sich jedoch schlagartig, als die äthiopische Zentralregierung 2010 damit begann, in Süd-Omo Infrastrukturen auszubauen und die allgemeine Schulpflicht durchsetzen zu wollen.

„Die Durchsetzung der Schulpflicht geht mit der Idee einher, dass Schulbildung die Zukunft von Kindern positiv beeinflusst und eine wirtschaftliche Entwicklung vorantreibt. Dabei wird oft vergessen, dass wertvolle Bildung auch außerhalb von Schulen stattfindet und dass eine ‚Schule für alle‘-Politik widersprüchliche Folgen für junge Menschen und ihre Familien haben kann. Die gewaltsamen Konflikte im Hamar-Distrikt zeigen eindrücklich, dass viele Familien existenziell darauf angewiesen sind, dass junge Menschen von ihren Verwandten bestimmte Fähigkeiten erlernen, im Haushalt mitarbeiten und so einen Beitrag zu einer diversifizierten Land- und Weidewirtschaft leisten.

Eine strikte Einschulung hingegen führt dazu, dass Kinder und Jugendliche von ihren Familien getrennt lernen und in einem städtisch geprägten Umfeld erzogen werden. So kam es bei dem Versuch, eine ausnahmslose Schulpflicht für alle Kinder durchzusetzen, zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen äthiopischen Regierungsvertretern und der Bevölkerung im Hamar-Distrikt. Vor allem der verlangte Schulbesuch von allen Mädchen stieß auf Widerstand“, berichtet Sabrina Maurus.

In diesem Konflikt wurde die Schule zu einem politischen Kampffeld

Sowohl die Eltern als auch der Staat beanspruchten das Recht, über das Leben „ihrer“ Kinder zu entscheiden. Die Bayreuther Sozialanthropologin zeigt in ihrer Untersuchung, wie dieser Konflikt um Jugendliche und ihre Bildung im Hamar-Distrikt Teil eines grundlegenden Konflikts war. Denn im Kern ging es um die Frage, wieweit der Zentralstaat in eine äthiopische Grenzregion hineinregieren und seine Macht über regionale Autoritäten und deren Kinder ausbauen dürfe.

Die Schüler gerieten so in ein Dilemma, weil sie von beiden Seiten physische Gewalt erfuhren. Die Arbeit zeigt eindrücklich, wie die erste Generation von Schülern ihre Zugehörigkeit im Spannungsfeld zwischen ihrer agropastoralen Herkunft und den Ansprüchen des Staates definieren muss. Dabei erleben die jungen Menschen Widersprüche, die sich durch alle Lebensbereiche hindurchziehen – vom Lebens- und Kleidungsstil bis hin zur Heiratswahl.

„Internationale Organisationen, die sich in der Entwicklungszusammenarbeit engagieren, gehen selbstverständlich davon aus, dass die allgemeine Schulpflicht ein wichtiger Impuls für den wirtschaftlichen Fortschritt eines Landes darstellt. Das Beispiel agropastoraler Gesellschaften zeigt aber, wie komplex die Frage nach einer guten und nachhaltigen Bildung ist, die den Arbeits- und Wirtschaftsweisen der Menschen vor Ort dient. Umso wichtiger ist es, die tatsächlichen und teils widersprüchlichen Verhältnisse vor Ort zum Ausgangspunkt für die Planung von Programmen in der Entwicklungszusammenarbeit zu machen“, sagt Maurus, die für ihre wissenschaftliche Arbeit im Herbst 2020 bereits mit dem Preis der Stadt Bayreuth ausgezeichnet wurde. Ihre von Prof. Dr. Erdmute Alber am Lehrstuhl für Sozialanthropologie und in der Bayreuth International Graduate School of African Studies (BIGSAS) betreute Studie zeigt auch, dass bildungspolitische Fragen nicht isoliert betrachtet werden dürfen.

Sie sollten vielmehr in Zusammenhang mit politischen Verhältnissen, Verwandtschafts-, Geschlechter- und Generationenbeziehungen sowie vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Lebensgrundlagen gesehen werden. Diesen relationalen Forschungsansatz von Bildung führt Sabrina Maurus nun in einem Projekt zu Benin im Forschungsbereich „Learning“ des Africa Multiple Cluster of Excellence an der Universität Bayreuth fort.