Bezahlbarer und langfristig verfügbarer Wohnraum für Familien ist in Deutschland insbesondere in Großstädten und Ballungszentren knapp. Und die Coronapandemie verlangte den Familien zuletzt ab, zusätzlichen Platz für Homeoffice- und Homeschooling zu schaffen. Einen vielversprechenden Lösungsansatz bieten gemeinschaftliche Wohnprojekte, von denen es Schätzungen zufolge bundesweit aktuell circa 3.000 gibt. Forschende der Hochschule Karlsruhe und des Deutschen Jugendinstituts (DJI) haben diese Wohnform aus raum- und sozialwissenschaftlicher Perspektive anhand verschiedener Methoden untersucht: Neben einer Online-Befragung von mehr als 400 Haushalten in etwa 90 Wohnprojekten wurden zwölf Fallstudien und 16 Experteninterviews durchgeführt.
Gemeinschaftliche Fürsorgenetzwerke entstehen
Laut der Studie „Familien in gemeinschaftlichen Wohnformen“ („FageWo“) fördert gemeinschaftliches Wohnen generationenübergreifende Netzwerke, die das Familienleben bereichern und bei der Sorgearbeit entlasten: Mehr als 60 Prozent der Befragten mit Kindern im Haushalt sind der Ansicht, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch das Wohnprojekt erleichtert wird, etwa durch Kinderbetreuung oder Hilfen im Alltag. Außerdem bietet diese Wohnform den Befragten zufolge Kindern und Jugendlichen ein erweitertes Umfeld mit Beziehungen zu Menschen außerhalb der eigenen Familie mehr Möglichkeiten, in einer vertrauten Umgebung eigenständig zu spielen. Auch im Alter erleichtern gemeinschaftliche Wohnformen laut der Studie ein selbstbestimmtes Leben.
Die Bewohner unterstützen sich regelmäßig im Alltag, etwa durch kleinere Instandsetzungen oder Einkäufe sowie in kritischen Lebenssituationen wie bei Krankheit oder Trennung. „Diese Unterstützungsleistungen sind eng verwoben mit familialer Fürsorge und teils mit professionellen Dienstleistungen und stellen somit eine Ergänzung im Care-Mix dar“, erklärt DJI-Wissenschaftlerin Dr. Martina Heitkötter und betont: „Netzwerke in gemeinschaftlichen Wohnformen werden mitunter als Erweiterung der Familie erlebt“.
Räume lassen sich veränderten Bedürfnissen von Familien anpassen
Die Geburt, der Auszug von Kindern, Trennungen oder neue Familienkonstellationen führen immer wieder zu veränderten sozialen und räumlichen Anforderungen. Die Befunde zeigen, dass die Wohnprojekte bei solchen biografischen Übergängen die erforderliche räumliche Anpassung ermöglichen können. Ein Beispiel dafür sind sogenannte Optionsräume, deren Funktion durch den Gebrauch definiert wird und die an verschiedenen Orten des Gebäudes platziert sind, so dass sie etwa von Heranwachsenden oder Großeltern vorübergehend genutzt und wieder freigegeben werden können.
Darüber hinaus sind innerhalb des Projekts Wohnungswechsel oder bauliche Anpassungen zur Vergrößerung oder Verkleinerung der Wohnungen möglich. Dies ermöglicht Familien, über verschiedene Lebensphasen hinweg in ihrem vertrauten Umfeld zu bleiben. „Die abgeschlossene Wohnung mit einer Hierarchie der Räume und ihrer funktionalen Zuordnung passt nicht mehr zur heutigen Vielfalt familialer Lebensformen“, erklärt die Leiterin des Forschungsprojekts, Professorin Susanne Dürr, von der Hochschule Karlsruhe. „So wie sich Familien verändern können, sollten sich auch Räume für Familien umwandeln lassen“.
Gemeinschaftliche Räume und Quartiersbezüge haben hohe Bedeutung
Wichtige Orte des gemeinschaftlichen Wohnens für Familien sind der Studie nach auch Räume zwischen privater und öffentlicher Sphäre: für Kommunikation, alltägliche Begegnungen oder als wohnungsnahe Spielräume für Kinder. Darüber hinaus spielen Bezüge zum jeweiligen Stadtviertel in den untersuchten Wohnprojekten eine wichtige Rolle. Sie zeigen sich vor allem in der Gestaltung der Erdgeschosse, aber auch an Freiflächen für soziale Aktivitäten.
Bezahlbarer und verlässlicher Wohnraum wird geschaffen
Die Befragung der Bewohner ergab, dass sich die Hälfte der Haushalte in gemeinschaftlichen Wohnformen nicht durch die Wohnkosten finanziell belastet fühlt. Das trifft nach aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamts im Bundesdurchschnitt nur auf ein knappes Drittel aller Miethaushalte zu. 18 Prozent aller Wohnungen in den befragten Projekten wurden mit finanzieller Förderung realisiert, während der Anteil an gefördertem Wohnraum im Bundesgebiet stetig zurückgeht. Damit tragen gemeinschaftliche Wohnprojekte – insbesondere in Großstädten – dazu bei, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.
Mehr als zwei Drittel der Wohnprojekte mit Mietwohnungen sind zudem als Rechtsform des gemeinschaftlichen Eigentums organisiert, beispielsweise als Genossenschaft, was den Mitgliedern ein lebenslanges Wohnrecht zusichert. Da gemeinschaftliches Wohnen Familien viele Vorteile bietet und die Nachfrage derzeit das Angebot übersteigt, fordern die Forschenden, die Rahmenbedingungen für Wohnprojekte zu verbessern, etwa durch Zugang zu bezahlbaren Grundstücken bzw. Immobilien, aber auch durch Beratung der Projekte.
Die Mitgestaltung von Wohnprojekten birgt Konflikte und erfordert Zeit
Die Potenziale gemeinschaftlicher Wohnprojekte entfalten sich insbesondere dann, wenn Abstimmungsprozesse schon während Planung und Bau, und nicht erst nach Einzug, gepflegt werden. Die Studie macht aber auch Herausforderungen der Wohnform deutlich: Räumliche Nähe kann demnach verstärkt Konflikte mit sich bringen und setzt bei den Bewohnerinnen und Bewohnern Offenheit und Toleranz voraus. Viele Projekte bieten daher Konfliktbegleitung an und eröffnen damit persönliche Entwicklungs- und Lernräume für die Beteiligten.
Außerdem empfinden einige Befragte Entscheidungsprozesse, beispielsweise zur Weiterentwicklung des Wohnprojekts, als langwierig. Und die Mitgestaltung kostet Zeit, die gerade bei Familien mit jungen Kindern ohnehin bereits knapp ist, da sie Erwerbstätigkeit und Sorgearbeit vereinbaren müssen. Die Möglichkeit, das familiäre Netzwerk zu erweitern, stellt sie den Studienergebnissen zufolge zusätzlich vor die Aufgabe, die verfügbare Zeit für Familie, Gemeinschaft und soziale Beziehungen außerhalb des Wohnprojekts auszubalancieren. Da die Planung und der Bau gemeinschaftlicher Wohnprojekte nur über einen längeren Zeitraum zu realisieren sind, werden diese auch nicht immer der Lebenswirklichkeit junger Familien gerecht. Denn befristete Arbeitsverträge und Jobwechsel in der Berufseinstiegsphase erfordern Mobilität, was der langfristigen Bindung an ein Wohnprojekt entgegensteht.